
Eigentlich verstörend, wie schnell sich der politische Staub nach einem terroristischen Massenmord wie dem in Manchester legt. Wie sehr Anschläge auch in Europa zu einem Teil der Normalität geworden scheinen. Der einzige Vorteil dieser bitteren Gewöhnung mag sein, dass es so leichter wird, sich nüchtern mit den Tatsachen auseinanderzusetzen.
Es lohnt nämlich, die schieren Daten, Zahlen, Fakten zu betrachten – zum Beispiel, um die Überwachungsmaßnahmen der EU-Staaten gegen den Terror ins Verhältnis zu setzen. Wie nach dem Anschlag Ende März 2016 am Brüsseler Flughafen habe ich auch jetzt wieder die Informationen recherchiert, die über islamistische Attentäter öffentlich verfügbar waren.
Wiederum trifft die zentrale Erkenntnis ins Mark:
Seit 2014 verübten insgesamt 24 identifizierte Täter 13 islamistische Mordanschläge in der EU – und alle, ja wirklich: 100 Prozent der Attentäter waren zuvor den Behörden bekannt und gewaltaffin.
Diese Kolumne ist aber nicht nur ein Update zur Kolumne „Multiples Staatsversagen“ vom 30. März 2016, sie ist auch eine Reflexion über die Hilflosigkeit der europäischen Demokratien – ohne dass ich ehrlich angemerkt ein Mittel gegen diese Hilflosigkeit wüsste. Die wesentlichen Definitionen für diese Untersuchung (Daten und Hintergründe unter is.gd/Terroristen):
- Als Mordanschlag bezeichne ich hier geplante Attentate, bei denen unschuldige Menschen (also nicht ein oder mehrere Täter) starben.
- Deshalb sind zum Beispiel die Anschläge von Würzburg und Ansbachim Juli 2016 nicht einbezogen, dort starben jeweils nur die Terroristen.
- Wie schon beim vorigen Mal habe ich Grenz- und Zweifelsfälle tendenziell ausgelassen, zum Beispiel den Mord eines islamistischen Angestellten an seinem Chef in Saint-Quentin-Fallavier am 26. Juni 2015.
- Naheliegenderweise können nur offiziell identifizierte Attentäter analysiert werden.
- Und ich habe mich auf islamistische Mordanschläge konzentriert. Was aber nicht unbedingt schwer war, denn seit 2014 war nach meinen Recherchen die absolute Mehrzahl der Mordanschläge in der EU (also: geplante, terroristische Attentate mit Todesopfern) islamistisch motiviert. Nur zwei Ausnahmen sind mir aufgefallen*: der rechtsterroristische Mord an der britischen Abgeordneten Jo Cox und ein Bombenanschlag auf einen Gefängniswärter in Nordirland im März 2016, in dessen Folge der Beamte zehn Tage später an einem Herzschlag starb (ein Grenzfall).
Wie viele Attentate verhindert wurden, ist schwer abzuschätzen
Grundsätzlich ist die Bewertung der Arbeit von Sicherheitsbehörden schwieriger als es scheinen mag. Hundert verhinderte Attentate können aus einer Reihe von Gründen geheim gehalten werden. Anschläge, die stattgefunden haben, sind dagegen naturgemäß sehr präsent. Und doch weisen die Daten – die ich sämtlich und ausschließlich aus öffentlich zugänglichen, nachvollziehbaren Quellen gewonnen habe – auf einige Problemfelder hin. Denn von den 24 identifizierten islamistischen Attentätern:
- waren alle 24 vorher den Behörden bekannt,
- konnten alle 24 als gewaltaffin betrachtet werden, weil sie entweder in islamistische Kriegsgebiete fuhren oder behördlich bekannte Gewalttätigkeiten verübt hatten,
- hatten 22 bekannte Kontakte mit anderen Islamisten oder islamistischen Netzwerken. In einem Fall waren diese Kontakte vorhanden, aber nicht bekannt,
- waren 21 auf verschiedenen Terror- oder Warnlisten, einer wurde überprüft und als „keine Gefahr“ eingestuft, vor einem wurden die Behörden mehrmals aus dem Umfeld des späteren Attentäters gewarnt, nur auf einen trifft nichts davon zu,
- hatten 17 Vorstrafen und einer eine Meldeverpflichtung,
- unternahmen 13 Reisen in von islamistischer Gewalt geprägte Gebiete wie Syrien oder Irak, fünf weitere haben entweder erfolglos versucht, dorthin zu gelangen, Reisen dorthin vermittelt oder sich zweitweise in anderen Ländern mit starken islamistischen/dschihadistischen Szenen aufgehalten,
- wurden zwölf entweder polizeilich gesucht oder bereits überwacht.
Die traurige Serie setzt sich damit nahtlos fort: Die große, reale Bedrohung des islamistischen Terrorismus geht von bekannten und Weiterlesen Islamistischer Terror in Europa: Unsere Sicherheit ist eine Inszenierung – DER SPIEGEL