Der Kampf um ein würdevolles Leben

Das Verfassungsreferendum in Chile ist eine Errungenschaft der anti-neoliberalen Protestbewegung

Vor 50 Jahren trat Salvador Allende in Chile als demokratisch gewählter sozialistischer Präsident sein Amt an: Sein politisches Vermächtnis ist Bezugspunkt für die Protestbewegung, wie das Schutzschild dokumentiert.

Vor 50 Jahren trat Salvador Allende in Chile als demokratisch gewählter sozialistischer Präsident sein Amt an: Sein politisches Vermächtnis ist Bezugspunkt für die Protestbewegung, wie das Schutzschild dokumentiert.

Foto: IVAN ALVARADO

Tausende Menschen haben sich an der Plaza de la Dignidad (Platz der Würde) zusammengefunden, wie die Demonstrant*innen die Plaza Baquedano in Chiles Hauptstadt Santiago nennen. Sie feiern den Jahrestag der Revolte, die sich am 18. Oktober 2019 im ganzen Land ausgebreitet hat. Musikgruppen mit Trommeln und Blasinstrumenten begleiten den Protestgesang »Chile Despertó« (Chile ist aufgewacht), der Hit dieses bunten Straßenfests. »Ein Jahr nach dem Erwachen schläft das Volk nicht, sondern kämpft weiter«, steht auf einem etwa 15 Meter mal sieben Meter großen Banner, das jemand von einem Hochhausdach aus ausgerollt hat.

»Unsere Renten sind niedriger als Hungerlöhne«, sagt die etwa 65-jährige Cecilia Araya, die heute zum Protest gekommen ist. Sie trägt eine Atemschutzmaske mit einer Flagge der Mapuche, dem größten indigenen Volk Chiles. »Meine Mutter musste Gewürze auf der Straße verkaufen, weil sie eine Rente von 80 000 Pesos (etwa 100 Euro) hatte. Überall sieht man Renter*innen, die irgendwas auf der Straße verkaufen, weil ihre Renten nicht ausreichen.« Der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol zufolge sind 80 Prozent der Renten in Chile niedriger als der Mindestlohn von umgerechnet etwa 350 Euro – bei Lebenshaltungskosten, die denen in Deutschland ähneln. Die privaten Rentenfonds AFP (Administradoras de Fondos de Pensiones) sind eine der Folgen der neoliberalen Maßnahmen, die in Chile während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) durchgeführt wurden. Pinochets Arbeitsminister, der sie anstieß, war José Piñera, der große Bruder des aktuellen Präsidenten Sebastián Piñera. Er gehört zu den sogenannten Chicago Boys, einer Gruppe, die neoklassische Wirtschaftstheorien bei Milton Friedman an der University of Chicago studierten und die Basis des Neoliberalismus bilden.

Verfassung von 1980 aus der Pinochet-Diktatur

Die Chilen*innen können an diesem 25. Oktober entscheiden, ob sie sich von der Verfassung der Pinochet-Diktatur verabschieden und sich ein neues Grundgesetz geben wollen. Außerdem können sie abstimmen, wie das Organ gewählt wird, das die neue Verfassung ausarbeiten soll.

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Die Rentenfonds bilden die Grundlage des Vermögens der Weiterlesen Der Kampf um ein würdevolles Leben

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Salvador Allende: Es war ein Privileg dabei zu sein

Von Nils Brock, Álvaro Garreaud und Pamela Cuadros

AFP

Am 4. September jährt sich zum 50. Mal der Wahlsieg Salvador Allendes. Als bekennender Marxist gelingt dem Kandidaten des Linksbündnis Unidad Popular (UP) damals Unerhörtes: Eine knappe Mehrheit der chilenischen Bevölkerung entscheidet sich an der Wahlurne dafür, den Aufbau eines demokratischen Sozialismus zu wagen – auf ganz legalem Weg. International herrscht links wie rechts Skepsis: Während die US-Regierung nicht müde wird, vor einem »zweiten Kuba« zu warnen, kritisieren Anhänger*innen der kubanischen Revolution den »bürgerlichen Charakter« des chilenischen Irrweges, da beim Kampf gegen das Imperium nichts an einer bewaffneten nationalen Befreiung vorbeiführe. Euphorisch reagieren dagegen alle jene, die der Kalten-Kriegs-Logik müde sind, die genug haben vom Krieg in Vietnam und der Niederschlagung von Reformbewegungen wie dem Prager Frühling. Könnte es nicht sein, dass dort in Chile an einem gerechteren Miteinander laboriert wird, das sich an einem kollektiven Horizont orientiert ohne dafür individuelle Freiheiten opfern zu müssen?

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Zehntausende zieht es in der dreijährigen Regierungszeit Allendes nach Chile: unabhängige Berichterstatter wie Saul Landau und Régis Debray, Intellektuelle wie Rossana Rossanda und Eric Hobsbawm, Künstler*innen wie Leonore Mau und Silvio Rodriguez, oder Politiker wie Zhou Enlai und Francois Mitterand. Doch Weiterlesen