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Viele entdecken ihre Friedensliebe erst dann, wenn zur Abwechslung mal wer anders als die NATO Bomben wirft. Demgemäß ist Russland nichts als Täter, die Ukraine nichts als Opfer und der sogenannte Westen nichts als Beobachter, der jetzt aber schnell helfen soll. Wer nach Zusammenhängen fragt, gilt als Kriegsrechtfertiger. (Kundgebung in Kiel, 26. Februar)
Wer dieser Tage ein Gedächtnis hat, braucht für Anfeindungen nicht zu sorgen. Man räumt schon irgendwie ein, dass der Ukraine-Krieg eine Vorgeschichte habe, die NATO seit 1991 Expansion gen Osten betreibe und ihrerseits auf eine stattliche Geschichte militärischer Aggression zurückblicken könne. Doch findet man, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, all das zu erwähnen. Vermutlich, weil in der Geopolitik nichts mit irgendwas zusammenhängt.
Der Vorwurf des Whataboutism ist schneller da, als man »Druschba« sagen kann. Und er kommt gerade von Leuten, die jetzt Waffenlieferungen und Aufrüstung herbeirufen. Oder gleich Kampfeinsätze. In jedem Fall von der Front aller, die die einseitige Sicht auf den Konflikt zu einer Sache des Gewissens erhoben haben und mit Macht ein Bild durchsetzen, demzufolge Russland nichts als Täter, die Ukraine nichts als Opfer und der sogenannte Westen nichts als Beobachter sei. Wer nach Zusammenhängen fragt, gilt ihnen als Kriegsrechtfertiger. Während offensichtlich ist, dass sie ihre Friedensliebe immer erst dann entdecken, wenn zur Abwechslung mal wer anders als die NATO Bomben wirft. Und weil sie nicht länger verbergen können, dass ihr kategorischer Imperativ in Scherben liegt und sie systematisch mit zweierlei Maß messen, bügeln sie jeglichen Hinweis darauf als Whataboutism weg.
Große und kleine Geister
Bevor man seine Kampflinien ordnet, sollte man sich im Kopf ordnen. Denn dieser Schritt kann später nicht mehr nachgeholt werden. Tun wir für einen Moment mal so, als wüssten wir gar nichts; naiv hinsehen statt elaboriert glotzen: Den Bürgerkrieg in einem benachbarten Land zum Vorwand nehmen, dessen Souveränität zu verletzten, es anzugreifen und den von der unterdrückten Minderheit bewohnten Teil mit Gewalt aus ihm herauszulösen, um diesen militärischen Akt dann nachträglich durch ein auf diesen Teil des Landes beschränktes Referendum zu legitimieren – in dieser Beschreibung lässt sich, solange man keine Namen nennt, sowohl der Krieg in der Ukraine als auch der im Kosovo wiedererkennen. Russland vollzieht heute Schritte, die die NATO seit Jahrzehnten vortanzt.
Und ebenso auf dem Gebiet der psychologischen Kriegführung. Schon länger herrscht hierzulande sorgfältig eingeübte Empörung über deutschsprachige Ableger russischer Staatsmedien und sogenannte Trollfabriken, die die Bevölkerung der westlichen Staaten beeinflussen. Man fühlt sich zersetzt und weist zudem darauf hin, dass die russische Propaganda keineswegs bloß die antiimperialistische Linke adressiert, sondern auch rechte Kreise, wodurch eine oppositionelle Querfront Anschub bekomme. Halten wir fest: Ein Land versucht durch mediale Mittel und direkte finanzielle Förderung eine politisch disparate (links-rechte) Opposition eines anderen Landes zu stärken, betreibt also Zersetzung mit dem langfristigen Ziel, dort einen politisch genehmen Kurs zu erzwingen. Das ist nun nicht bloß gängige Praxis der US-amerikanischen Außenpolitik seit 1945, es ist exakt das, was westlicherseits und sichtbar ab 2004 auf dem Kampffeld Ukraine betrieben wurde.
Die kollektive Panik, die die Deutschen gerade erfasst – beständig schwankend zwischen Friedenssehnsucht und Bereitschaft zum Krieg –, lässt sich demnach auch als Ausdruck einer Kränkung deuten. Man geht unbewusst davon aus, dass es das natürliche Recht des Westens sei, andere Länder zu überfallen oder zu zersetzen, um dort eine Lebensweise zu etablieren, die der eigenen entspricht, und bei dieser Gelegenheit auch gleich die Grundlagen für wirtschaftliche Investitionen zu schaffen. Wieviel postkoloniale Anmaßung in dieser Sicht der Dinge steckt, wird offenbar, sobald jemand es dem Westen gleichtut, dem das einfach nicht zustehe, ein postzaristischer Autokrat zum Beispiel. Ein zweiter Antrieb scheint in der deutschen Geschichte zu liegen. Die Deutschen haben mit den Russen ebenso ihr Issue wie mit den Juden; sie suchen in der Jetztzeit Möglichkeiten, die Last der Vergangenheit abzutragen, suchen, um ein Wort von Eike Geisel zu nehmen, Wiedergutwerdung. Die Ukrainer geraten den Deutschen dabei zum Stellvertretervolk, durch das die Nachfahren der Täter sich zum Opfer hin identifizieren können. Der dritte Antrieb der Angst scheint tatsächlich Angst zu sein. Authentische Sorge darum, dass Europa zum weiten Kriegsfeld werden und der Russe demnächst an den Seelower Höhen stehen könnte. Bloß setzt diese Angst einerseits ein völliges Verkennen der eigentlichen militärischen Kräfteverhältnisse zwischen Russland und den transatlantischen Staaten voraus, wie sie zum andern wiederum eurozentristisch ist. Kriege und Massenfluchten – weitaus schlimmer, weitaus größer als jetzt – waren und sind in anderen Teilen der Welt an der Tagesordnung, nicht selten von eben den westlichen Ländern betrieben, deren Bewohner jetzt echt Angst kriegen.
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