Zerstörung der Welt als lebensfreundliches Terrain. Seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass das fortwährende ökonomische Wachstum zu Klimaveränderungen mit katastrophalen Folgen für die Menschheit führen wird
Der folgende Text von Karl-Heinz Dellwo erscheint in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift Crisis and Critique (www.crisiscritique.org).Wir veröffentlichen an dieser Stelle eine vom Autor selbst gekürzte Fassung. (jW)
In keinem Land scheint der Russenhass so schnell aktivierbar zu sein wie in Deutschland¹, das nun zum fünften Mal daran beteiligt ist, Russland vom Westen her seinem Europa zu unterwerfen.² Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, gab direkt nach Beginn des russischen Krieges in der Ukraine die alte Naziparole aus, nach der die russische Industrie zu vernichten und Russland zu einem Agrarland zu machen sei.³
Krieg als Befreiungsschlag
Diese Schnelligkeit, mit der hier altnazistische Parolen aktiviert werden und mit der eine politisch mehr oder weniger unbeleckte neue Politik- und Medienkaste, die gerade noch das Loblied des »grünen Kapitalismus« sang, in den Kriegsmodus schalten konnte, verweist auf eine historische Fäulnis des Bisherigen und weckt seltsame Assoziationen zur Vorkriegszeit und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Als der 1914 begann, öffneten sich alle gesellschaftlichen Schleusen. Schnell waren alle politischen Unterschiede eingeebnet: Bis auf eine marginale Minderheit wollte sich jeder am Krieg beteiligen. Die Sozialdemokraten liefen zum Kaisertum über (und haben sich von diesem Verrat inhaltlich nie wieder erholt). Der Kaiser kannte bekanntlich keine Parteien mehr, sondern nur noch deutsche Vaterlandsverteidiger. Die Jugend orientierte sich an der national-idealistisch mystifizierten Schlacht in Langemarck im November 1914, eine vom deutschen Heer militärisch dümmlich organisierte Kriegsaktion ohne jede Relation zu den erreichbaren Zielen, aber mit großen Opfern – Futter für den verlogenen Patriotismus.
Die „Zeitenwende“ der Regierungspolitik in Deutschland bildet sich als Aufrüstungsprojekt ab. Eine angeblich bis auf das Hemd kaputtgesparte Bundeswehr soll endlich das „notwendige Material“ bekommen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Ob mit dem nun weltweit drittgrößten Rüstungsetat tatsächlich mehr Sicherheit geschaffen werden kann, ist fraglich – garantiert ist aber, dass eine Branche, die volkswirtschaftlich nicht relevant ist, enorme Geldmengen vernichten darf: Die Rüstung. Das Handbuch Rüstung zeigt auf, welche Firmen in Deutschland in diesem Feld aktiv sind und was sie im Einzelnen produzieren. Neben einer Karte, die die Standorte der Rüstung in Deutschland benennt, haben wir ein Verzeichnis der Firmen zusammengestellt und verweisen auf die Verflechtungen der Firmen untereinander. Deutlich wird, dass Rüstung nicht nur in den wenigen großen Firmen stattfindet, die wie Rheinmetall, Krauss-Maffei-Wegmann, Airbus, Heckler&Koch oder Diehl bekannte Namen sind. Aufgezeigt wird, wie lokal die Produktion ist und dass eine Auseinandersetzung mit Rüstung auch lokal geführt werden kann.
Über das Verzeichnis hinaus haben wir einige grundsätzliche Informationen zum Komplex Rüstung zusammengestellt, die bei der Einordnung helfen und Verfahren und Probleme erläutern sollen. Die 100-Seiten Broschüre (A4) ist im Print verfügbar (8,- € zuzügl. Versandkosten) Print bestellen: imi@imi-online.de
Die Broschüre ist ebenfalls als Download verfügbar – die IMI freut sich über Spenden für ihre Arbeit.
Das Handbuch Rüstung kann hierheruntergeladen werden.
Eilneitung
Die Karten und das Verzeichnis zur Rüstungsindustrie in Deutschland basieren auf den Mitgliederverzeichnissen zweier großer Lobby-Verbände und eigenen Recherchen. Das Ziel dieser Zusammenstellung ist es, Aktiven und Interessierten einen detaillierten Überblick über die Verteilung der Branche in Deutschland zu geben und die Akteure und Zusammenhänge zu beleuchten. Es soll jeden und jede in die Lage versetzen, sich über den Kontext und die Produkte einer Firma in ihrer Nähe überblicksartig zu informieren und anregen, weitere eigene Recherchen anzustrengen. Es geht um eine lokal geführte differenzierte Diskussion, die wir mit diesen Informationen unterstützen wollen.
Zum Verzeichnis
Als Grundlage haben wir zwei bekannte Vereinigungen gewählt, die den Großteil der Rüstung in Deutschland abdecken. Der BDSV – der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – versammelt die großen Firmen in Deutschland, die einen direkteren Draht zur Politik gesucht haben und mit der Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik (DWT) nicht zufrieden waren. Der BDSV versteht sich als politische Vertretung der Branche auf europäischer Ebene. Die Besonderheit besteht in der Abdeckung des Begriffs „Sicherheit“, der es Firmen ermöglicht hier beizutreten, ohne den „Makel“ der Wehrtechnik anzunehmen. So gibt es Firmen darunter, denen man nicht eindeutig einen Bezug zum Militär nachweisen kann (obwohl die Affinität vorhanden ist). Das zweite Verbandsverzeichnis, welches herangezogen wurde, ist das des AFCEA-Verbandes (Anwenderforum für Fernmelde- und Computertechnik, Elektronik und Automatisierung) mit Sitz in Bonn, dem vornehmlich IT- und Softwarefirmen angehören. Vordergründig scheint er noch viel eher einen zivilen und Sicherheitsbezug zu haben, als der BDSV. Im Kern sind seine Aktivitäten jedoch ganz wesentlich am Bedarf einer militärisch verstandenen „Sicherheit“ orientiert und umfassen beispielsweise regelmäßige Industrieforen, wo Vertreter der Unternehmen mit solchen aus dem Verteidigungsministerium und den Streitkräften zusammen kommen. Es gibt auch hier Unternehmen (und Unternehmensniederlassungen), die eher als zivil zu werten sind. Zum Eintrag in unsere Liste und in die Karte reichte die Mitgliedschaft in einem der zwei Verbände aus.
Der Begriff „Sanktionen“ für eigenmächtig von einem oder mehreren Staaten verhängte Maßnahmen ist irreführend. Denn nichts und niemand gibt einem Staat wie den USA oder einem Staatenbündnis wie der EU das Recht, selbstherrlich Strafmaßnahmen zu verhängen. Dazu ist allein der UN-Sicherheitsrat legitimiert. Korrekter sollten wir daher, wie es in UN-Dokumenten der Fall ist, von unilateralen Zwangsmaßnahmen reden. Häufig werden die von westlichen Staaten verhängten „Sanktionen“ damit begründet, Menschenrechte in den betroffenen Ländern verteidigen, durchsetzen oder, wie im Fall des russischen Einmarsch in die Ukraine, Völkerrechtsverstöße ahnden zu wollen. Tatsächlich verstoßen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen jedoch selbst auf mehrfache Weise gegen internationales Recht und Menschenrechte – auch die aktuellen gegen Russland.
Da sie per se nur von dominierenden Mächten oder Bündnissen verhängt werden können, ist ihr Einsatz auch entsprechend selektiv. Sie werden fast ausschließlich von den USA und ihren Verbündeten verhängt. Solche Mächte können sicher sein, dass sie selbst bei schlimmsten Verbrechen nicht selbst Ziel solcher Maßnahmen werden können. Unilaterale Zwangsmaßnahmen fördern keineswegs die „Stärke des Rechts“, sondern setzen das „Recht des Stärkeren“ durch und sind daher letztlich Akte der Willkür.
„Mittelalterliche Belagerungen“
Die USA haben mittlerweile – allein oder zusammen mit den EU-Staaten – gegen rund 40 Länder solche eigenmächtigen Maßnahmen verhängt. Einige, wie die Wirtschaftsblockaden gegen Kuba, Iran, Venezuela, Nordkorea und Russland, sind allgemein bekannt. Die verheerenden Folgen der Blockaden gegen bereits völlig verarmte Länder wie Nicaragua, Mali, Simbabwe oder Laos hat jedoch kaum jemand auf dem Schirm. Natürlich wird von westlicher Seite stets beteuert, dass ihre Maßnahmen sich allein gegen die jeweilige Regierung, das jeweilige Regime richten würden. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, liegt auf der Hand, dass sie in erster Linie die Bevölkerung treffen. Dies ist keineswegs ein unerwünschter Nebeneffekt, sondern gehört – entgegen allen Beteuerungen – zum Kalkül. Soll auf diese Weise doch öffentlicher Druck auf die Regierungen aufbaut werden, den Forderungen der blockierenden Mächte nachzugeben.
Die Hoffnungen vieler nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine friedlichere Welt haben sich nicht erfüllt. Durchgängig herrschte in den letzten Jahren in über 30 Ländern weltweit Krieg. Wirtschaftliche Erpressungspolitik, Blockaden und Handelskriege zerstören weltweit ökonomische und ökologische Existenzgrundlagen. Immer mehr Menschen sind wegen Krieg, Armut und Umweltzerstörung auf der Flucht. Mit der Ukraine kam ein weiterer Krieg hinzu, mit dramatischen Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt.
Um diese verhängnisvolle Entwicklung zu wenden, müssen wir zurück zu den friedenspolitischen Ansätzen der 1970er und 1980er Jahre und den mit konkreten Abkommen verbundenen Bestrebungen in den 1990er Jahren nach Ende des Kalten Krieges, die durch die Expansionspolitik der NATO zu Grabe getragen wurden. Eine Entspannungspolitik und Sicherheitsarchitektur, die die Sicherheitsinteressen aller Konfliktparteien berücksichtigt, ist alternativlos. Angesichts gigantischer globaler Probleme – Hunger und Elend, soziale Ungleichheit, Erderwärmung und Artensterben, Verseuchung von Böden, Flüssen und Meeren – sind Krieg und Aufrüstung unverantwortlich. Ohne internationale Zusammenarbeit und die Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel sind die globalen Probleme nicht zu lösen.
Sicherheit für uns Menschen kann nicht durch Hochrüstung und militärische Interventionen erreicht werden, sondern nur durch eine gerechte Politik und nachhaltiges, vorausschauendes Handeln. Ein Streben nach Dominanz, unfaire Handelsbeziehungen und die politisch geschaffene immer größere Kluft zwischen Arm und Reich stehen dem diametral entgegen.
Wir sind für eine neue Politik der Zusammenarbeit statt Konfrontation, für eine Friedenspolitik der vertrauensbildenden Maßnahmen, die zu Entspannung und Abrüstung führt, zu einem System gemeinsamer Sicherheit und kontrollierter Abrüstung in Europa und weltweit, für eine Friedenspolitik, wie sie 1990 mit der Charta von Paris und folgenden Abkommen angestrebt worden war.
Statt der Berufung auf eine westlich definierte regelbasierte Ordnung fordern wir die Beachtung des Völkerrechts von allen Seiten und ein Ende der Doppelmoral.
Krieg zwischen NATO und Russland
Krieg als Mittel der Politik lehnen wir grundsätzlich ab. Wir haben uns stets entschieden dafür eingesetzt, Krieg als Mittel der Politik zu verhindern, auch bei dem Konflikt zwischen NATO, Ukraine und Russland. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist daher ein Rückschlag für alle, die sich für Frieden engagiert haben – und gleichzeitig eine Herausforderung für die Friedensbewegung, ihre Bemühungen für zivile Lösungen zu intensivieren. Nicht zu viel Entspannungspolitik ist das Problem gewesen, sondern zu wenig.
Als Bürger:innen eines NATO-Staates richten wir unsere Kritik in erster Linie an die NATO-Staaten. Denn der Krieg hätte verhindert werden können und müssen. An eindringlichen Warnungen, auch von zahlreichen führenden westlichen Außenpolitikern und Experten, dass die Missachtung essentieller Sicherheitsinteressen Russlands eine solche Reaktion provozieren könnte, hat es nicht gefehlt. Wir weisen zudem die Doppelmoral zurück, mit der ausgerechnet die Regierungen der USA und ihrer Verbündeten den russischen Einmarsch als Völkerrechtsbruch anprangern, sich als Richter aufspielen und härteste Sanktionen verhängen, nachdem sie selbst verheerende Angriffskriege geführt und Völkerrecht gebrochen haben.
Was bleibt von der Europapolitik der vergangenen Woche? Die Ukraine bekommt den Kandidatenstatus und wird zur Priorität Nr. 1 der Europapolitik. Die Gaskrise wird ernst – vor allem Deutschland ist schwer getroffen. Und die Wünsche der Bürger zur EU-Reform werden übergangen.
Ukraine, Ukraine, Ukraine. Das Land im Krieg mit Russland, das beim EU-Sondergipfel im März in Versailles noch nicht einmal eine “europäische Perspektive”hatte, steht nun im Zentrum der Europapolitik. Beim EU-Gipfel diese Woche toppte sie alles. Den Westbalkan, der seit 20 Jahren auf EUropa wartet, aber auch die Wirtschafts- und Energiekrise, die Deutschland und die EU erschüttert.
Und das dürfte auch nach dem “historischen” Beschluß über den Kandidatenstatus so weitergehen. Als Nächstes steht der Wiederaufbau auf dem Programm – die EU will hunderte Milliarden investieren.
Außerdem geht es um neue Waffen und noch mehr Sanktionen. Beim G-7-Gipfel in Elmau und beim Nato-Gipfel in Madrid werden die EU-Politiker noch weiter gehen als bei ihrem Treffen in Brüssel.
Etwas ehrlicher war Präsident Macron: Da eine Mitgliedschaft in der Nato derzeit nicht infrage komme, sei die EU eingesprungen, sagte er nach dem Gipfel in Brüssel. Alles andere wäre ein “politischer Fehler”gewesen.
Im Beschluss des DKP-Parteitags Ende Mai wird über die Perspektive des Russland-Ukraine-Krieges eingeschätzt: „Die USA haben das Interesse, den Krieg zu verlängern, um Russland als Partner der Volksrepublik China zu zermürben, die Voraussetzungen für eine ‚bunte Revolution‘ in der Russischen Föderation zu schaffen, Russland in eine Halbkolonie zu verwandeln und die VR China in den Krieg hineinzuziehen. Sie nutzen die von ihnen beherrschte NATO, um die EU und Deutschland in diese Strategie einzubinden. Das erste Ergebnis dieser Einbindung sind der Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2 und die Planungen für ein Energieembargo – gegen die sich auch Teile des deutschen Monopolkapitals stellen – oder die US-Planungen zur Stationierung von hochpräzisen Hyperschallwaffen, sogenannte Dark Eagle, in Grafenwöhr. (…) Wer diesen Krieg anheizt, erhöht die Gefahr eines Atomkrieges nicht nur in Europa.“ Zu den Plänen veröffentlichen wir Ausschnitte aus dem Vortrag, den Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, letzte Woche auf Einladung des Münchner Friedensbündnisses, der Deutschen Friedensgesellschaft DFG-VK und der DKP in München gehalten hat:
Die USA lassen Hyperschallraketen für Armee, Luftwaffe und Marine entwickeln. Das Programm hat „höchste Priorität“ für das Pentagon. Für Deutschland und Europa steht ein Déjà-vu ins Haus. Die Eckdaten der Hyperschallrakete „Dark Eagle“ von Lockheed-Martin, dem einstigen Hersteller der Pershing 2, sind klar: Reichweite mehr als 2.775 km, auf Lkw landbeweglich und in Flugzeugen transportierbar, mit ihrer Stationierung ist schon ab 2023 zu rechnen. Sie sollen nicht-nuklear bewaffnet werden. (…) Dass sie in Europa stationiert werden sollen, ist klar, wo sie in Europa stationiert werden sollen, ist nicht bekannt. Von wo sie kommandiert werden sollen, jedoch schon. Von Wiesbaden aus, beim Europa-Hauptquartier der US-Armee. Dort ist seit November eine 500 Mann starke „Multi-Domain-Taskforce“ (MDTF) eingezogen, dessen 56. Artilleriekommando exakt jenes ist, welches bis 1991 für die Pershing 2 zuständig war. Die dem Kommando unterstellte 41. Feldartilleriebrigade im bayerischen Grafenwöhr stellt damals wie heute die Kanoniere. Deshalb liegt es nahe, dass die „Dark Eagle“ in Grafenwöhr stationiert werden. Moskau liegt 2.000 km von Grafenwöhr entfernt. Die Flugzeit der „Dark Eagle“ von dort beträgt 10 Minuten.
Was für Ziele gibt es in über 2.000 Kilometern Entfernung, die unbedingt binnen weniger Minuten zerstört werden müssen? Reicht dafür nicht auch ein Tomahawk-Marschflugkörper? Zu dieser Frage erklärte das US-Heer im September 2021, die Raketen „Dark Eagle“ würden „eine einzigartige Kombination von Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Flughöhe liefern, um zeitkritische, stark verteidigte und hochwertige Ziele zu besiegen“.
Russlands Einmarsch in die Ukraine als Bruch des Völkerrechts, als Zeitenwende. Die Begriffe sind vielfältig. Wir haben die Vorgeschichte des aktuellen Krieges mehrfach thematisiert und ergänzen unsere Berichterstattung mit der Veröffentlichung eines Vortrags zur Vorgeschichte des Krieges.
Der Text ist ein Vortrag, der am 5. April im ND-Gebäude in Berlin gehalten wurde (siehe Video). Er wurde für die Veröffentlichung um wenige Abschnitte gekürzt.
Russland griff am 24. Februar ohne Vorwarnung die Ukraine an. Dieser Überfall auf den Nachbarn hat überrascht, nachdem Russland zuvor ständig behauptet hatte, seine Truppenzusammenführung – von 150.000 Soldaten war zuletzt die Rede – nahe der ukrainischen Grenze diene lediglich Übungszwecken, ein Angriff sei nicht geplant. Allein dieser Wortbruch löst große Ängste und Verunsicherungen über die Glaubwürdigkeit Russlands aus. Das ohnehin schwache Vertrauen scheint gänzlich zerrüttet. Die zuvor angekündigten Sanktionen sind immens. Russland nimmt sie auf sich, was eine langfristige Schädigung der Wirtschaft zur Folge hat. Jetzt, 41 Tage nach Kriegsbeginn, sind die von Russland angerichteten Schäden für die ukrainische Bevölkerung sehr, sehr groß und sehr, sehr schmerzhaft. Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Allein 10 Millionen Menschen mussten ihr Zuhause zwangsweise verlassen. Das ist jeder vierte Einwohner oder vierte Einwohnerin. Vier Millionen von ihnen suchten Sicherheit im Ausland. Die materiellen Schäden sind noch nicht zu ermessen. Ausgegangen wird von einem Rückgang der ukrainischen Wirtschaftsleistung um 35 Prozent in diesem Jahr.1 Ein Drittel der Betriebe liegt lahm. Die Folgen der Sanktionspolitik außerhalb des Landes in Europa, Afrika und Asien sind überhaupt nicht absehbar. Die Frage stellt sich, was kann es für einen Grund geben, die Verantwortung für diese Katastrophe zu übernehmen? Hat es keine Alternative gegeben? Muss es nicht eine Alternative geben angesichts dieses unermesslichen Leidens, die dieser Angriffskrieg auslöst?
Am 24. Februar war in den NATO-Staaten das Urteil gefällt: Russland bricht das Völkerrecht. Der Krieg sei durch nichts zu rechtfertigen. Die Verurteilung für den Angriff ist damit umfassend. Die drastischen Sanktionen seien a verdient und b notwendig, um den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Derjenige, der ihn als einziger beenden könne, sei der russische Präsident. So lautet das gängige Narrativ hierzulande.
Folglich war die Zustimmung zu Scholz‘ gigantischem Aufrüstungsprogramm groß, selbst Waffenexporte in Kriegsgebiete, über Jahrzehnte undenkbar, wurden urplötzlich bejubelt.
Klarer Völkerrechtsbruch durch Russland?
Beginnen wir beim Vorwurf des Völkerrechtsbruchs. Er liegt dann vor, wenn das Gewaltverbot der UN-Charta in Artikel 2, Absatz 4 verletzt wird. Der darin formulierte zentrale Grundsatz verbietet die Anwendung von Gewalt gegen das Territorium eines anderen Staates. Der Grundsatz garantiert die Unversehrtheit des Territoriums eines jeden UNO-Mitglieds. Der Angriffskrieg sei völkerrechtswidrig, ist die durchgehende Behauptung in der westlichen Öffentlichkeit und auch in der Friedensbewegung, nicht nur hierzulande. Wenn es keine völkerrechtlichen Vorschriften gibt, die dem entgegenstehen, dann ist es so.
Das Ziel der US-amerikanischen Politik sei es, eine europäische Supermacht und die Annäherung zwischen Deutschland und Russland zu verhindern, sagt der amerikanische Politikwissenschaftler George Friedman, Gründer und Leiter der Denkfabrik Stratfor. Diese Absicht bestimme auch den aktuellen Konflikt um die Ukraine.
Schwieriges Verhältnis: Die USA und Russland tragen in der Ukraine einen hegemonialen Konflikt aus, sagt ein US-Beobachter. Die Kanzlerin sitzt zwischen den Stühlen. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Die USA wollen in der Ukraine einer liberalen Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen. Diese Vorstellung prägt in Deutschland das Bild vom Ukrainekonflikt. Der amerikanische Politikwissenschaftler George Friedman ist jedoch überzeugt, dass es in der Ukraine weniger um den Aufbau einer freien Gesellschaft geht, sondern um amerikanische und russische Hegemonial-Interessen. Doch damit nicht genug, denn es soll sich darüber hinaus auch um gegenseitige Vergeltungsaktionen zwischen den USA und Russland, sowie um direkte Machtpolitik der Amerikaner gegenüber Deutschland und der EU handeln.
In einem Vortrag vor dem renommierten Chicago Council on Global Affairs sagte Friedman: „Deutschland bildet zusammen mit Russland eine ernsthafte Gefahr für die Weltmachtpolitik der USA.“ Folglich würden die Amerikaner alles unternehmen, um eine Annäherung dieser beiden Länder zu torpedieren. Das würde sich insbesondere in der Ukraine zeigen, wo die USA immer stärker direkt eingreifen und sich über die Politik der Zurückhaltung von Kanzlerin Merkel hinwegsetzen würden.
Imperiale Nostalgie scheint es zu sein, was Wladimir Putin umtreibt – Nostalgie und der Wunsch, die Schmach der ökonomischen Schocktherapie loszuwerden, der Russland am Ende des Kalten Krieges unterzogen wurde. Nostalgische Vorstellungen von amerikanischer „Greatness“ wiederum sind Teil der Motivation, welche die immer noch von Donald Trump angeführte Bewegung mobilisiert – sowie der Wunsch, sich nicht länger für die als White Supremacy verherrlichte Ruchlosigkeit verantworten zu sollen, welche die Gründung der Vereinigten Staaten prägte und diese bis heute entstellt. Und Nostalgie ist es auch, was jene kanadischen Trucker animiert, die wochenlang Ottawa besetzt hielten und mit ihren rot-weißen Flaggen wie eine Eroberertruppe eine simplere Zeit beschworen – eine Zeit, in der ihre Gewissensruhe nicht durch Erinnerungen an die Körper indigener Kinder gestört wurde, deren Gebeine man immer noch auf dem Boden jener genozidalen Institutionen findet, die es einst wagten, sich „Schulen“ zu nennen.[1]
Hier handelt es sich nicht um die warme, wohltuende Nostalgie schemenhafter Erinnerungen an Kindheitsfreuden. Vielmehr haben wir es mit einer wuterfüllten und zerstörerischen Version zu tun, die sich an eingebildete Vorstellungen vergangener Ruhmestaten klammert – entgegen aller ernüchternden Evidenz.
All diese nostalgiegetriebenen Bewegungen und Gestalten verbindet die Sehnsucht nach etwas anderem, ein auf den ersten Blick möglicherweise unwahrscheinlicher Zusammenhang. Es ist die nostalgische Verklärung einer Zeit, in der man fossile Brennstoffe aus der Erde fördern konnte, ohne sich unnötige Gedanken machen zu müssen – über Genozide; über Kinder, die auf ihr Recht pochen, eine Zukunft zu haben; oder über alarmierende Berichte des Weltklimarates (IPCC) wie jenen dieser Tage veröffentlichten, der UN-Generalsekretär António Guterres zufolge einem „Atlas menschlicher Not und einer vernichtenden Anklageschrift über das Versagen bisheriger Klimapolitik“ gleicht.[2] Gewiss, Putin führt einen Petrostaat an, der sich trotzig einer Diversifizierung seiner einseitig von Öl und Gas abhängigen Wirtschaft verweigert hat, ungeachtet der verheerenden Auswirkungen des hektischen Auf und Ab der Rohstoffpreise auf sein Volk sowie ungeachtet der Realitäten des Klimawandels. Trump seinerseits ist geradezu besessen davon, wie leicht sich mit fossilen Brennstoffen Geld machen lässt, und hat die Leugnung des Klimawandels zur Signatur seiner Präsidentschaft gemacht.
Die kanadischen Trucker wiederum wählten nicht nur Benzinkanister und gigantische Neunachser-Lastzüge als Symbole ihres Protests. Die Führer der Bewegung schwören obendrein auf das extraschmutzige Öl der Teersande von Alberta. Bevor sie jetzt als Freedom Convoy auftraten, nahmen viele von ihnen bereits 2019 an der als United We Roll bekannt gewordenen Generalprobe teil, einer wilden Mischung aus flammender Verteidigung von Pipelines, Widerstand gegen C02-Bepreisung, einwanderungsfeindlicher Xenophobie und unverhüllter Nostalgie für ein weißes, christliches Kanada.
»Öl« steht für eine ganze Weltanschauung
Auch wenn Petrodollars diese politischen Kräfte sponsern, muss man wissen, dass „Öl“ hier für eine ganze Weltanschauung steht, für eine tief mit Vorstellungen von Manifest Destiny[3] und einem Zeitalter glorreicher „Entdeckungen“ verwobene Kosmologie, die menschliches wie nichtmenschliches Leben einer rigiden Hierarchie unterwirft und an deren Spitze weiße, christliche Männer stehen. In diesem Kontext symbolisiert „Öl“ die extraktivistische Geisteshaltung, die nicht nur von dem gottgegebenen Recht ausgeht, fossile Brennstoffe zu fördern, sondern, sich auch berechtigt fühlt, nach allem zu greifen, was man begehrt, dabei verseuchten Grund zu hinterlassen und niemals zurückzublicken.
Aus diesem Grund stellt die rasch voranschreitende Klimakrise nicht nur eine wirtschaftliche Bedrohung für in den extraktiven Branchen engagierte Menschen dar, sondern zugleich eine kosmologische Herausforderung für alle, die der beschriebenen Weltsicht anhängen. Denn was bedeutet „Klimawandel“ in Wahrheit? Ist es doch die Erde selbst, die uns mitteilt, dass es nichts gratis gibt; dass das Zeitalter der „Herrschaft“ des (weißen, männlichen) Menschen zu Ende ist, dass es keine Einbahnstraße gibt, in der es ausschließlich ums Nehmen geht, und dass jede Aktion Reaktionen hervorruft. Diese Jahrhunderte des Grabens, Bohrens und Ausspeiens setzen jetzt Kräfte frei, die selbst die robustesten Strukturen, welche die Industriegesellschaften schufen – Küstenstädte, Autobahnen, Bohrinseln –, verwundbar und zerbrechlich aussehen lassen. Das aber kann die extraktivistische Geisteshaltung unmöglich akzeptieren.