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NACHRICHT | 07.03.2022
Ein Brief an die Linke im Westen, über eure Fehler und unsere eigenen.
07.03.2022

Wir in der postsowjetischen Welt haben viel von euch gelernt. Wenn ich «wir» sage, meine ich die versprengten oder lose organisierten kommunistischen, demokratisch-sozialistischen, anarchistischen und feministischen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen in Kiew, Lviv, Minsk, Moskau, Sankt-Petersburg und all den anderen Orten, die nun in Krieg und Polizeigewalt versinken. Nachdem unsere eigene marxistische Tradition verknöchert war und nur noch ein entwertetes Nischendasein fristete, lasen wir englischsprachige Literatur über Das Kapital. Nach dem Untergang der Sowjetunion hielten wir uns an eure Analysen der amerikanischen Weltordnung, des neoliberalen Akkumulationsregimes und des westlichen Neo-Imperialismus. Anregungen empfingen wir von den sozialen Bewegungen des Westens, von der globalisierungskritischen Bewegung bis zu den Antikriegsprotesten, von Occupy bis zu Black Lives Matter.
Wir schätzen eure Versuche, unsere Weltgegend theoretisch zu deuten. Zurecht habt ihr darauf hingewiesen, dass die USA in Russland und andernorts während des postsowjetischen Transformationsprozesses fortschrittliche Entwicklungsmöglichkeiten behindert hat. Es ist auch korrekt, dass es den USA und Europa nicht gelungen ist, ein Sicherheitssystem zu schaffen, das Russland und andere postsowjetische Länder einbezöge. Unsere Länder sind es seit langem gewohnt, sich anzupassen, Zugeständnisse zu machen und sich erniedrigenden Bedingungen zu fügen. Eure Haltung war bei alledem geprägt von einer Sympathie, die an Romantisierung grenzte, was wir bisweilen stillschweigend geduldet haben.
Volodymyr Artiukh ist Sozialanthropologe und forscht zur Arbeiterklasse und Migration in Osteuropa.
Jetzt aber, da Charkiv unter russischem Beschuss liegt, zeigt sich die Beschränktheit dessen, was wir von euch übernommen haben. Denn euer Wissen habt ihr euch unter den Bedingungen der amerikanischen Hegemonie erarbeitet, die an Russlands blutroten Linien an ihre Grenzen stößt. Die USA sind nicht länger in der Lage, ihre eigenen Interessen als übergreifende Interessen darzustellen, die auch im Sinne Russlands und Chinas wären. Sie können Zustimmung militärisch nicht erzwingen und ihre wirtschaftlichen Druckmittel werden schwächer. Obwohl viele von euch daran glauben, ist Russland keineswegs länger in einer Position, in der es nur reagiert, sich anpasst und dem Westen entgegenkommt. Es hat seine Handlungsmacht zurückgewonnen und ist fähig, seine Umgebung nach dem eigenen Willen zu gestalten. Dabei bedient sich Russland anderer Methoden als die USA, denn es stützt sich vor allem auf rohe Gewalt, anstatt unter Einbeziehung von «soft power» und wirtschaftlicher Macht ein hegemoniales Projekt zu verfolgen. Doch wie ihr alle aus dem Auftreten der USA in Lateinamerika, Irak, Afghanistan und vielen anderen Ländern wisst, ist rohe Gewalt durchaus ein wirkungsvolles Instrument. Russland ahmt die Zwangsmethoden des amerikanischen Imperialismus nach, ohne dessen hegemonialen Kern beizubehalten.
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