Selbstjustiz im Namen des Volkes: Vigilantistischer Terrorismus
10.6.2016 Der Ursprung des Begriffs „Terror“ liegt im französischen terreur und bezeichnete in der Französischen Revolution die unmittelbare Gewaltanwendung unter dem Schutz und im Interesse des Staats, das heißt eine Periode des „Terrors von oben“.[1] Später wurde der Begriff „Terrorismus“ zur Bezeichnung anarchistischer und sozialrevolutionärer Gewalt ziviler Personen gegen den Staat oder die Mehrheitsgesellschaft verwendet, also um „Terror von unten“ beziehungsweise „Terror von außen“ zu beschreiben. In Deutschland dominiert dieses Verständnis die Debatte, nicht zuletzt aufgrund der traumatischen Erfahrungen mit der Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) und der Gefahr durch islamistische Terroristen. Doch der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) und die aktuelle Eskalation von Gewalt gegen Geflüchtete, Asylunterkünfte sowie deren Unterstützerinnen und Unterstützer indizieren ein weitreichendes begriffliches und konzeptionelles Defizit mit hoher wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz: Wie ist terroristische Gewalt einzuordnen und zu analysieren, die sich weder direkt gegen den Staat richtet noch durch den Staat ausgeübt wird, sondern die sich gegen Angehörige schwacher Gruppen in der Gesellschaft wendet mit den Zielen, unter diesen Angst und Schrecken zu verbreiten und sie zu unterdrücken und zu vertreiben? Welche Motive treiben organisierte Gewalttäter wie die „Bürgerwehr Freital“ oder den Attentäter von Henriette Reker an, die behaupten, mit ihren Taten „das deutsche Volk“ schützen zu wollen? Wie sind diese Aktivitäten im Kontext internationaler Terrorismusforschung einzuordnen?
Vor dem Hintergrund der Migrationskrise[2]wächst die Zahl selbsternannter Bürgerwehren und von gewalttätigen Aktivitäten, die sich gegen Geflüchtete richten. Die hohe Zahl der durch Fluchtmigration nach Deutschland kommenden Einwanderinnen und Einwanderer wird von Teilen der Zivilgesellschaft als Staatsversagen gedeutet: Darauf reagieren unter anderem Akteure,[3] die als „dunkle Seite der Zivilgesellschaft“[4] bezeichnet werden können, durch verstärktes Engagement in Form einer bewegungsförmigen und zum Teil gewaltsamen privaten Flüchtlingsabwehr. Gesetz- und Regelüberschreitungen sind dabei in der Intention der Täterinnen und Täter keine generalisierte Absage an das Ordnungssystem des Nationalstaats, sondern Ausdruck des Misstrauens in dessen Autorität und Wirkungsmacht. Demnach geht es diesen Akteuren zunächst nicht darum, das „System“ grundlegend zu verändern, sondern dessen „alte“ Ordnung zu „verteidigen“ – auch wenn dies bedeutet, dass das staatliche Gewaltmonopol zwischenzeitlich suspendiert werden muss. Diese Form systemstabilisierender Selbstjustiz nichtstaatlicher Akteure mit vorgeblich protektiven Motiven beschreibt – bisher vor allem in der US-amerikanischen Debatte – der Begriff des „Vigilantismus“.
Eine allgemeine Definition von „Vigilant“ lautet: „Anhänger einer Bürgerwehr, die das Recht in die eigenen Hände nimmt“.[5] Der Vigilantismusforscher Ray Abrahams hält fest, dass der Vigilantismus den Staat selbst nicht zurückweist, aber von der Idee lebt, dass die Legitimität des Staats von dessen Fähigkeit abhängt, der Bürgerschaft zu jedem Zeitpunkt das Maß an Gesetz und Ordnung zur Verfügung zu stellen, das sie verlangt. Die Existenz von Vigilantismus ist demnach ein Misstrauensvotum in die Effizienz des Staats, nicht in das Konzept des Staats selbst.[6] Vigilantismus ist in mehrfacher Hinsicht „hausgemacht“ (homegrown): erstens, da seine Akteure Staatsbürgerinnen und -bürger sind; zweitens aufgrund ihres ideologischen Selbstbilds, das darin besteht, ihr home zu „verteidigen“; drittens wird der Vigilantismus häufig nicht erkannt oder nicht ernst genommen und der Radikalisierung der Täterinnen und Täter nicht angemessen begegnet, da sie aus der nationalen „Hausgemeinschaft“ stammen und innerhalb dieser ambivalente multiple Rollen einnehmen (etwa als Brandstifter und gut bekannter Nachbar).
So verharmlosend in der Debatte um die Migrationskrise manche medialen und politischen Formulierungen wie „besorgte Bürger“ oder „Asylkritiker“ sind, so zutreffend ist auch, dass Bezeichnungen als „Rechtsextremisten“ oder „Neonazis“ diese Akteure vielfach analytisch nicht treffen. Der Begriff „rechtsextrem“ impliziert im öffentlichen und offiziellen Verständnis soziale Randständigkeit und politische Staatsfeindlichkeit. Damit sind die Motive von Gewalttätern wie beispielsweise dem Brandstifter von Escheburg nicht treffend zu beschreiben. Dabei handelt es sich um einen 39-jährigen Finanzbeamten, der im Februar 2015 ein Haus für Geflüchtete anzündete.
Insgesamt ist 2015 die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gegenüber den Vorjahren enorm angestiegen: Vieles weist darauf hin, dass ein großer Teil der Anschläge von Personen begangen wurde, die ebenfalls nicht der rechtsextremen Bewegung angehören. „Die Zeit“ zitiert aus einem Lagebild des Bundeskriminalamts vom Januar 2016, wonach über 47 Prozent der Tatverdächtigen von Angriffen auf Asylunterkünfte 2015 nicht in den Registern von Polizei und Staatsschutz zu finden seien.[7] Die „Tagesschau“ meldet, Weiterlesen Selbstjustiz im Namen des Volkes: Vigilantistischer Terrorismus
Die Dialektik und der Humanismus der Praxis
Franz J. Hinkelammert
Mit Marx gegen den neoliberalen kollektiven Selbstmord
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
240 Seiten | 2020 | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-056-7
Kurztext: Karl Marx zeigt in seiner Kritik des Kapitalismus, wie durch eine bestimmte Auffassung des Verhältnisses von Markt und menschlichem Leben letzteres sekundär wird. Diese geradezu marktreligiöse Auffassung wurde im Neoliberalismus, auch durch Gegenkritik an Marx, radikalisiert. Hinkelammert analysiert diese Marx-Kritiken mit dem Ziel, der Marktreligion einen neuen Humanismus der Praxis entgegenzusetzen.
- Inhalt & Leseprobe:
www.vsa-verlag.de-Hinkelammert-Dialektik-Humanismus.pdf623 K
Hinkelammert verdeutlicht, wie sich die Auffassung des historischen Materialismus und damit der menschlichen Gesellschaft im Marxschen Denken entwickelt. Der Markt wird zum Ausgangspunkt des Wirtschaftens, der Mensch zu einem verachteten und ausgebeuteten Wesen. Ziel einer Befreiung wäre die Unterordnung des Marktes unter das Leben der Menschen. Das aber setzt eine Kritik der politischen Ökonomie voraus.
Zudem zeigt Marx, dass die Marktordnung als Wettbewerbsordnung gleichzeitig eine Klassenkampfordnung ist. Dieser Klassenkampf von oben bildet durch die entstehenden extremen Widersprüche auch einen Klassenkampf von unten heraus. Auf diese Entwicklung reagieren wiederum Interpretationen, die häufig die Form von (scheinbarer) Wissenschaft haben und beherrscht werden durch die »Sieger« im Wettbewerb. Sie bauen eine extreme Ideologie auf, die jeden Widerstand gegen diese Tendenzen des Wettbewerbs und gegen die Interessen der diesen Wettbewerb beherrschenden Gruppen für illegitim erklärt. Es entsteht eine Marktideologie, die gleichzeitig Marktreligion ist. Als Hauptvertreter dieser Richtung untersucht der Autor Friedrich August Hayek und dessen Traditionen, insbesondere Friedrich Nietzsche, Max Weber und Karl Popper.
Für Hinkelammert ergibt sich die Notwendigkeit, »diese gesamte Marxkritik aufs Neue zu diskutieren von einem Standpunkt aus, der den Dialog sucht und nicht einfach einen scheinbar wissenschaftlich geführten Bürgerkrieg«. Zu verteidigen sind dabei alle Menschenrechte, deren Verwirklichung eine Intervention in den Markt voraussetzt und deren Anwendung es erst möglich macht, menschenwürdig zu leben und damit die gegenwärtigen Tendenzen zum kollektiven Selbstmord hin aufzulösen.
Der Autor:
Franz J. Hinkelammert ist ein in Lateinamerika lebender Ökonom und Befreiungstheologe. Er ist Autor grundlegender Arbeiten zur Marx’schen Religions- und Kapitalismuskritik sowie zur Kritik
der neoliberalen Ökonomie.