Der besondere Reiz des Zu-sich-selbst-Kommens

Peter Schabers Einführung in die politische Philosophie von Abdullah Öcalan

Braucht man denn noch eine Theorie?«, heißt es häufig in linken Kreisen, es sei doch schon über alles geschrieben worden. Dabei ist doch die Frage, wie wir die Theoriegenese neu denken können. Zwischen theoretischem Reduktionismus und rudimentärem Pragmatismus gibt es durchaus eine Realität, in der Theorie angewandt, überdacht, kritisiert und wiederaufgearbeitet wird. Eine epistemologische Realität, in der man Theorie nicht zum Dogma verkommen lässt, in der man aber philosophische Zielsetzungen klar formulieren kann. Die Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung ist auch die Geschichte eben dieser Dialektik. Zwischen Paradigmenwechsel und ständig wandelnden geopolitischen Realitäten muss die nun mehr als 40 Jahre alte Bewegung diesen politischen Lauf auf einem zugegebenermaßen sehr schmalen Grat immer wieder meistern. Wieso also nicht davon lernen?

»Die Überwindung der kapitalistischen Moderne« heißt ein Buch von Peter Schaber, das im Oktober im Unrast-Verlag erschienen ist. Schaber will eine Einführung in das Denken von Abdullah Öcalan bieten und den »Systementwurf«, der den Schriften des Gründers der PKK zugrunde liegt, herausarbeiten und »zum Weiterlesen und zum eigenen Studium Öcalans anregen«. 

Dieser politische Systementwurf kann kurz gefasst als rätedemokratisches Modell bezeichnet werden, in dem weniger der Umsturz einer politisch-staatlichen Ordnung das Ziel ist, als der Aufbau dezentraler und basisdemokratischer Einheiten, die eine Alternative zu Staatszentrismus und Autoritarismus darstellen sollen. Besonders wichtig sind hierbei Themen wie Frauenbefreiung, ökologischer Wandel und kollektive Selbstverteidigung.

Dieser Systementwurf basiert auf vielen Studien und Überlegungen von Öcalan, die er im Gefängnis unter den Auflagen der türkischen Justiz unternommen und formuliert hat – seit 1999 ist er inhaftiert. Diese Weiterlesen Der besondere Reiz des Zu-sich-selbst-Kommens

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Coronakrise als »Brandbeschleuniger«

Bei zahlreichen Familien in den EU-Staaten sind die Geschenke in diesem Jahr weniger üppig ausgefallen, wenn es denn überhaupt welche gegeben hat. Verzichten mussten die Kinder aus Familien, deren Eltern durch Arbeitslosigkeit oder aufgrund niedriger Entlohnung arm geworden sind, schon zuvor auf vieles – auf gute Chancen sowie Bedingungen in den Bereichen Bildung, Sport und Kultur, auf adäquate Wohnungen oder sogar auf kindgerechte Ernährung.

Die jungen Menschen im finanzstarken Luxemburg sind hiervon nicht ausgenommen. In einer Mitte Dezember vom Forschungszentrum von UNICEF veröffentlichten Studie wird erwähnt, dass 22,7 Prozent der luxemburgischen Kinder an der Armutsgrenze leben resp. von akuter Armut betroffen sind. Außerdem kritisiert die UNICEF-Forschergruppe, dass nur zwei Prozent der von den Regierungen in den sogenannten »high income«-Ländern bereitgestellten finanziellen Hilfen – mittlerweile über 11 Billionen US-Dollar – der Unterstützung von Kindern und ihren Familien zugute kommen sollen. In rund einem Drittel dieser Staaten sind überhaupt keine Maßnahmen für notdürftige Kinder vorgesehen. 90 Prozent der Gelder fließen in Konjunkturprogramme, ergo in den Rachen von Unternehmen. Nicht mal ansatzweise ist ein groß angelegtes, keynesianisches Infrastrukturprogramm erkennbar.

In puncto Kinderarmut erweist sich die anhaltende Coronakrise als »Brandbeschleuniger« – weltweit. Diese Metapher hat jüngst die deutsche »Welthungerhilfe« angeführt, um auf die extreme Notsituation in Krisengebieten hinzuweisen. Etwa 690 Millionen Menschen in mehr als 50 Ländern leiden unter Hunger und Unterernährung. Besonders erschreckend, aber durchaus symptomatisch für den globalisierten Kapitalismus ist die Tatsache, dass bereits im Jahr 2018 mehr als 5,3 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag dem Hungertod zum Opfer fielen. Die UNICEF hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Schnitt alle 13 Sekunden ein Kind an den Konsequenzen unzureichender Ernährung stirbt.

Diese Zahlen müssten aufrütteln. Der bürgerlichen Presse sind sie allerdings nur vereinzelte Berichte wert, und dies auch nur zu besonderen Anlässen. Die mediale Dampfwalze, die seit Monaten die Covid19-Krise begleitet, scheint die geradezu dramatische Situation der Kinderarmut und des Welthungers gänzlich aus dem Fokus ge(d)rückt zu haben.

Den Krisen sowie den Armutsproblemen in den westlichen Industrieländern auf den Grund zu gehen, würde unweigerlich bedeuten, die Systemfrage zu stellen, also den Ausbeutungscharakter des Kapitalismus sowie die menschenverachtende Dominanzpolitik der imperialistischen Staaten und Staatengebilde durch Kriege und militärische Stellvertreterkonflikte bzw. durch strangulierende Freihandelsverträge anzuprangern. Dann doch lieber Zeitungs- und Internetseiten füllen mit zusehends konfuser werdenden Artikeln zur Covid19-Pandemie und zu der scheinbaren Wirkungsmacht der neuen Impfstoffe.

Letztere sind nicht einmal lizenzfrei und haben damit bereits den Fetischcharakter einer Ware angenommen. Sie werden also zunächst die Profitmargen einiger Konzerne der Pharmaindustrie in die Höhe schnellen lassen, zudem können die Unternehmen sich aus den in kürzester Zeit von den kapitalistischen Staaten bereitgestellten milliardenschweren Fonds bedienen. Ein »großartiges Geschäft«, das sich mit der Bekämpfung von Armut und Hunger – z.B. durch eine ähnliche Unterstützung des UNO-Welternährungsprogramms oder auf nationaler Ebene durch die Erhöhung der Mindestlöhne sowie der Einkommensunterstützung, die Anpassung der Lebensmittelzulagen, die Förderung der Miet- und Hypothekenbefreiung sowie der Bildungsprogramme – keinesfalls machen lässt.

Alain Herman 
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Unser Leitartikel: <br/>Coronakrise als »Brandbeschleuniger«