Der besondere Reiz des Zu-sich-selbst-Kommens

Peter Schabers Einführung in die politische Philosophie von Abdullah Öcalan

Braucht man denn noch eine Theorie?«, heißt es häufig in linken Kreisen, es sei doch schon über alles geschrieben worden. Dabei ist doch die Frage, wie wir die Theoriegenese neu denken können. Zwischen theoretischem Reduktionismus und rudimentärem Pragmatismus gibt es durchaus eine Realität, in der Theorie angewandt, überdacht, kritisiert und wiederaufgearbeitet wird. Eine epistemologische Realität, in der man Theorie nicht zum Dogma verkommen lässt, in der man aber philosophische Zielsetzungen klar formulieren kann. Die Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung ist auch die Geschichte eben dieser Dialektik. Zwischen Paradigmenwechsel und ständig wandelnden geopolitischen Realitäten muss die nun mehr als 40 Jahre alte Bewegung diesen politischen Lauf auf einem zugegebenermaßen sehr schmalen Grat immer wieder meistern. Wieso also nicht davon lernen?

»Die Überwindung der kapitalistischen Moderne« heißt ein Buch von Peter Schaber, das im Oktober im Unrast-Verlag erschienen ist. Schaber will eine Einführung in das Denken von Abdullah Öcalan bieten und den »Systementwurf«, der den Schriften des Gründers der PKK zugrunde liegt, herausarbeiten und »zum Weiterlesen und zum eigenen Studium Öcalans anregen«. 

Dieser politische Systementwurf kann kurz gefasst als rätedemokratisches Modell bezeichnet werden, in dem weniger der Umsturz einer politisch-staatlichen Ordnung das Ziel ist, als der Aufbau dezentraler und basisdemokratischer Einheiten, die eine Alternative zu Staatszentrismus und Autoritarismus darstellen sollen. Besonders wichtig sind hierbei Themen wie Frauenbefreiung, ökologischer Wandel und kollektive Selbstverteidigung.

Dieser Systementwurf basiert auf vielen Studien und Überlegungen von Öcalan, die er im Gefängnis unter den Auflagen der türkischen Justiz unternommen und formuliert hat – seit 1999 ist er inhaftiert. Diese Weiterlesen Der besondere Reiz des Zu-sich-selbst-Kommens

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Coronakrise als »Brandbeschleuniger«

Bei zahlreichen Familien in den EU-Staaten sind die Geschenke in diesem Jahr weniger üppig ausgefallen, wenn es denn überhaupt welche gegeben hat. Verzichten mussten die Kinder aus Familien, deren Eltern durch Arbeitslosigkeit oder aufgrund niedriger Entlohnung arm geworden sind, schon zuvor auf vieles – auf gute Chancen sowie Bedingungen in den Bereichen Bildung, Sport und Kultur, auf adäquate Wohnungen oder sogar auf kindgerechte Ernährung.

Die jungen Menschen im finanzstarken Luxemburg sind hiervon nicht ausgenommen. In einer Mitte Dezember vom Forschungszentrum von UNICEF veröffentlichten Studie wird erwähnt, dass 22,7 Prozent der luxemburgischen Kinder an der Armutsgrenze leben resp. von akuter Armut betroffen sind. Außerdem kritisiert die UNICEF-Forschergruppe, dass nur zwei Prozent der von den Regierungen in den sogenannten »high income«-Ländern bereitgestellten finanziellen Hilfen – mittlerweile über 11 Billionen US-Dollar – der Unterstützung von Kindern und ihren Familien zugute kommen sollen. In rund einem Drittel dieser Staaten sind überhaupt keine Maßnahmen für notdürftige Kinder vorgesehen. 90 Prozent der Gelder fließen in Konjunkturprogramme, ergo in den Rachen von Unternehmen. Nicht mal ansatzweise ist ein groß angelegtes, keynesianisches Infrastrukturprogramm erkennbar.

In puncto Kinderarmut erweist sich die anhaltende Coronakrise als »Brandbeschleuniger« – weltweit. Diese Metapher hat jüngst die deutsche »Welthungerhilfe« angeführt, um auf die extreme Notsituation in Krisengebieten hinzuweisen. Etwa 690 Millionen Menschen in mehr als 50 Ländern leiden unter Hunger und Unterernährung. Besonders erschreckend, aber durchaus symptomatisch für den globalisierten Kapitalismus ist die Tatsache, dass bereits im Jahr 2018 mehr als 5,3 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag dem Hungertod zum Opfer fielen. Die UNICEF hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Schnitt alle 13 Sekunden ein Kind an den Konsequenzen unzureichender Ernährung stirbt.

Diese Zahlen müssten aufrütteln. Der bürgerlichen Presse sind sie allerdings nur vereinzelte Berichte wert, und dies auch nur zu besonderen Anlässen. Die mediale Dampfwalze, die seit Monaten die Covid19-Krise begleitet, scheint die geradezu dramatische Situation der Kinderarmut und des Welthungers gänzlich aus dem Fokus ge(d)rückt zu haben.

Den Krisen sowie den Armutsproblemen in den westlichen Industrieländern auf den Grund zu gehen, würde unweigerlich bedeuten, die Systemfrage zu stellen, also den Ausbeutungscharakter des Kapitalismus sowie die menschenverachtende Dominanzpolitik der imperialistischen Staaten und Staatengebilde durch Kriege und militärische Stellvertreterkonflikte bzw. durch strangulierende Freihandelsverträge anzuprangern. Dann doch lieber Zeitungs- und Internetseiten füllen mit zusehends konfuser werdenden Artikeln zur Covid19-Pandemie und zu der scheinbaren Wirkungsmacht der neuen Impfstoffe.

Letztere sind nicht einmal lizenzfrei und haben damit bereits den Fetischcharakter einer Ware angenommen. Sie werden also zunächst die Profitmargen einiger Konzerne der Pharmaindustrie in die Höhe schnellen lassen, zudem können die Unternehmen sich aus den in kürzester Zeit von den kapitalistischen Staaten bereitgestellten milliardenschweren Fonds bedienen. Ein »großartiges Geschäft«, das sich mit der Bekämpfung von Armut und Hunger – z.B. durch eine ähnliche Unterstützung des UNO-Welternährungsprogramms oder auf nationaler Ebene durch die Erhöhung der Mindestlöhne sowie der Einkommensunterstützung, die Anpassung der Lebensmittelzulagen, die Förderung der Miet- und Hypothekenbefreiung sowie der Bildungsprogramme – keinesfalls machen lässt.

Alain Herman 
Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Unser Leitartikel: <br/>Coronakrise als »Brandbeschleuniger«

Überall Militär, Polizei, Söldner, «Sicherheit» – aber nirgendwo Gerechtigkeit

change.org

26-31 Minuten


30. Dez. 2020 — 

«Was ich in den letzten zehn Jahren wirklich gelernt habe: Information ist Macht.» (Jennifer Robinson)

Überall Militär, Polizei, Söldner, «Sicherheit» – aber nirgendwo Gerechtigkeit

Anfang Januar entscheidet ein Londoner Gericht, ob Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA ausgeliefert wird, weil er schwere Kriegsverbrechen der US-Armee aufdeckte. Anwältin Jennifer Robinson, die Assange seit 2010 vertritt, schildert die Schikanen, denen sie als Anwältin ausgesetzt war, die Folgen, die Assanges Einkerkerung schon jetzt für Journalisten hat – und wie die Trump-Regierung eine Begnadigung in Betracht zog, wenn Assange dafür politischen Gegnern geschadet hätte.

Ein Interview von Daniel Ryser (Text) und Kate Peters (Bilder), 29.12.2020

Ein Fall, in dem auch sie als Anwältin verleumdet werden sollte: Die Australierin Jennifer Robinson verteidigt Julian Assange seit zehn Jahren.

Während Donald Trump zu Heilig­abend verurteilte Kriegsverbrecher und Mörder begnadigt, die im Irak Zivilisten abschlachteten und ein Massaker verübten, sitzt Julian Assange in London in Isolations­haft. Diejenigen Mörder, die Assange enttarnt hatte, mussten sich niemals vor Gericht verantworten. Andere, die es mussten, wie im Fall der Söldnerfirma Blackwater, sind jetzt frei.

Das Büro der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Uno warnte, die Begnadigungen würden andere dazu ermutigen, ähnliche Grausamkeiten zu begehen. Der Vater eines neunjährigen irakischen Buben, der von US-Söldnern erschossen wurde, sagte, dieser Entscheid habe sein Leben ein zweites Mal zerstört.

Überall Militär, Polizei, Söldner, angebliche Sicherheit, aber nirgendwo Gerechtigkeit. Wikileaks-Gründer Julian Assange sitzt seit über einem Jahr in England in einem Hochsicherheits­gefängnis. Das Einzige, was gegen ihn vorliegt: Die USA verlangen seine Auslieferung, weil er Kriegs­verbrechen, Folter, Massaker durch das US-Militär publik gemacht hat. Menschen­rechts­organisationen wie Amnesty International und die Organisation Reporter ohne Grenzen fordern seit langem seine unverzügliche Freilassung.

Das Gericht in London, das am 4. Januar 2021 sein Urteil verkünden wird, hat bis heute nie öffentlich Stellung genommen, warum man Assange überhaupt in Einzelhaft steckt; warum man ihn überhaupt wegsperrt; warum er an den Gerichts­verhandlungen gefesselt hinter Panzerglas sitzen muss, als wäre es Assange, der schwere Kriegs­verbrechen begangen hat.

Julian Assange wird Weiterlesen Überall Militär, Polizei, Söldner, «Sicherheit» – aber nirgendwo Gerechtigkeit

Ein Jahr Corona: Ende oder Wende?

Schild mit Piktogramm Maskenpflicht im Schaufenster eines mit Rolltor verschlossenen Geschäfts in der Innenstadt von Köln, Nordrhein Westfalen, Deutschland (imago images / Ralph Peters)

Schon heute, gut ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie, ist klar, dass wir es mit dem wohl härtesten globalen Einschnitt seit der epochalen Zäsur von 1989/90 zu tun haben. Allerdings könnte der Gegensatz zu 1989 kaum größer sein. Damals bescherte der Fall der Mauer das Ende des Warschauer Pakts und den Sturz der kommunistischen Diktaturen. Diesmal ist es der „Führer der freien Welt“, Donald Trump, den das historische Ereignis aus dem Amt katapultiert hat. Die Geschichte wiederholt sich also, allerdings nicht als Farce, aber doch unter fast umgekehrten Vorzeichen. Was 1989/90 der Niedergang des Sowjetimperiums war, ist 2020 das Ende der US-Regierung – und das just in dem Moment, als Trump die Macht mit autokratischen Mitteln zu verteidigen suchte. Corona wurde damit zum Game changer. Doch während damals der Osten fundamental betroffen war und sich im Westen wenig bis nichts ändern musste, stehen heute die westlichen Demokratien im Feuer. Zugleich sitzt das autoritäre Regime in China – als der Ausgangspunkt der Pandemie – fester im Sattel als zuvor. So erweist sich die Coronakrise als jene fundamentale „demokratische Zumutung“, von der die Kanzlerin gesprochen hat. Oder genauer gesagt: als die wohl größte Herausforderung für die Demokratie seit dem Untergang ihres totalitären Kontrahenten 1990.

Am Ende dieses Corona-Jahres sind die Demokratien, diesmal von innen massiv herausgefordert, an der Grenze ihrer Handlungsfähigkeit angelangt. Das gilt auch für Deutschland. In keinem der 75 Jahre ihres Bestehens wurde die Bundesrepublik nicht nur derart massiv ökonomisch heruntergefahren, sondern zudem das Verhältnis von Staat und Gesellschaft so grundsätzlich verhandelt wie 2020.

Und auch hier erlebten wir eine erstaunliche Verkehrung der politischen Vorzeichen. Radikale Staats-, ja Systemkritik kommt heute nicht mehr von links, sondern von rechts. Die angeblich neuen Konservativen, als die sich die Mitglieder und Anhängerinnen der AfD gerne etikettieren, entpuppten sich als libertäre Anarchisten und radikale Anti-Etatisten, die sogar mit erwiesenen Staatsfeinden wie den Reichsbürgern beim versuchten „Sturm auf den Reichstag“ gemeinsame Sache machen – als rechte antiparlamentarische Opposition. Mit der Vorstellung eines angeblichen „Great Reset“ wird eine Revolution von oben gegen das Volk herbeiphantasiert – durch den Deep State als die Vertretung der „Globalisten“, von Bill Gates bis George Soros. Vor allem aber erwies sich die rechte Opposition als ausschließlich von Egoismus getrieben, als dem Gegenteil von staatspolitischer Verantwortung. Wenn sie von Freiheit und „Eigenverantwortung“ spricht, um damit die staatlichen Einschränkungen zu kritisieren, dann verbirgt sich dahinter entweder ein naiv gutmeinendes Menschenbild – auch das alles andere als konservativ –, oder (und vor allem) das radikal egoistische Anliegen, vom Staat primär eines zu wollen: absolut in Ruhe gelassen zu werden und keinerlei Einschränkungen zu unterliegen.

Auf der anderen Seite erlebte man eine erstaunliche neue Koalition aus Christdemokraten bzw. -sozialen und der gesammelten potentiellen Linken im Lande, von Linkspartei, SPD und Grünen. Wollte man die Webersche Unterscheidung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik bemühen, so könnte man in ihnen die Verantwortungsbewussten sehen, während sich AfD und teilweise auch die FDP allein ihrer infantil-egoistischen „Gesinnung“ verpflichtet fühlen.

Offene Staatsfeindschaft gegen die Verteidigung der intervenierenden Rolle des Staates, lautet somit die zentrale Auseinandersetzung dieses Jahres. Ein Jahr nach Ausbruch Weiterlesen Ein Jahr Corona: Ende oder Wende?

Spuren in die Schweiz: AfD-Mann beschaffte Waffen für Neonazis

Mitte Sommer schlugen die Ermittler zu. Am 8. Juli, frühmorgens, stürmten mehr als 200 Polizisten Woh­nungen und Geschäftsräume von zwölf Rechtsextremen in Deutschland und Österreich. Sie stiessen auf Nazi-Propaganda – und auf Waffen: Pistolen, Pumpguns, Munition.

«Das ist sehr ernst zu nehmen», erklärte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) an ­einer Medienkonferenz kurz nach der Razzia. Sein Bundesland­ ­hatte den Zugriff koordiniert.
Die Waffen stammen allesamt aus illegalen Lieferungen aus ­Kroatien. Doch von wem? Wer hatte die Rechtsextremen im grossen Stil mit Schmuggelware vom Balkan ausgerüstet? Das wurde wenige Tage nach der länderübergreifenden Polizeiaktion klar, als Spezialeinheiten in einer kroatischen Hafenstadt den mutmasslichen Waffenschieber verhafteten: Alexander R.* (48).

Recherchen von SonntagsBlick zeigen: Der festgenom­mene Deutsche wohnte und geschäf­tete in der Schweiz. Er besitzt eine Wohnung in Buchs SG und ist als Geschäftsführer einer Schwyzer Firma eingetragen. Diese berät laut eigenen Angaben Kunden in den Bereichen «Zollabwicklungen und Aussen­handel».

Handy überwacht

Die Fahnder hatten R. seit Jahren im Visier, seine Schweizer Handynummer wurde überwacht. Auf Ersuchen von Deutschland halfen sowohl die Bundesanwaltschaft als auch die Berner Justiz bei den Ermittlungen. Beide Behörden bestä­tigen das. Details nennen sie nicht, die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern schreibt auf Anfrage einzig: «Ein im August 2019 gestelltes Rechtshilfegesuch betraf Abklärungen zu verschiedenen ­Konten des Beschuldigten.»

Dass Alexander R.s Abnehmer in Deutschland und Österreich beinahe alle aus der rechtsextremen Szene stammen, ist kaum Zufall. Er selbst war über Jahre hinweg in der Neonazi-Szene aktiv. 2009 kümmerte er sich in der von der NPD getragenen «Bürgerinitiative Ausländerstopp» um die Medienarbeit. Später trat er in die AfD ein. Fotos zeigen ihn im Juni 2016 in Deggendorf (D) bei einem ­Auftritt von Björn Höcke. R. steht nah beim Thüringer AfD-Landes­chef.

2018 stieg der mutmassliche Waffenschieber bei der Schwyzer Beraterfirma für Zollabwicklung und Aussenhandel ein. Im gleichen Jahr geriet er wohl auch ins Visier der Sicherheitsbehörden. Just zu jener Zeit sprengten die EU-Strafverfolger von Europol in Kroatien ein kriminelles Netzwerk, das ausrangierte Waffen aus dem Balkankrieg nach Westeuropa schmuggelte.

Die kroatische Polizei durchsuchte 26 Häuser und verhaftete 17 Verdächtige. Und schon damals führten Spuren in die Schweiz. ­Neben Kalaschnikows, Pistolen, Handgranaten und einem Raketenwerfer beschlagnahmten Weiterlesen Spuren in die Schweiz: AfD-Mann beschaffte Waffen für Neonazis

Diskriminierung und rassistische Gewalterfahrungen von PoC

Keine Einzelfälle: Diskriminierung und rassistische Gewalterfahrungen von PoC
Zweiter Zwischenbericht der Universität Bochum zu Polizeigewalt

Ulrich von Klinggräff

Die Diskussionen zum Thema des polizeilichen Rassismus und der rechtswidrigen Polizeigewalt reißen seit Monaten nicht ab. Bewegte sich der Diskurs etwa im Zusammenhang mit dem NSU-Verfahren zunächst noch in eher überschaubaren bürgerrechtlichen und antirassistischen Kreisen ist spätestens seit dem Tod von George Floyd und den black lives matter-Demonstrationen im Sommer 2020 festzustellen, dass die Forderungen nach einer unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung von racial profiling und anderen diskriminierenden oder gewalttätigen Polizeimaßnahmen lauter werden und breite gesellschaftliche Kreise erreicht haben.

Angesichts einer Vielzahl von bekannt gewordenen polizeilichen Übergriffen, Meldungen von rechtsradikalen polizeilichen Chatgruppen, NSU 2.0 und Datenabfragen sowie Droh-E-Mails gegen Politiker*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen und unsere Kollegin Seda Başay-Yıldız reduzieren sich die Stimmen, die weiterhin von »Einzelfällen« und »Generalverdacht« schwadronieren, auf immer weniger werdende Stimmen aus den Kreisen der Polizeigewerkschaften und des Innenministeriums.
Etwas vorschnell hieß es im Oktober dann plötzlich, dass sich die SPD-Spitze mit Seehofer darauf geeinigt habe, dass es nun die vielerorts geforderte Studie zur Frage des Bestehens eines strukturellen polizeilichen Rassismus-Problems geben solle. Im Gegenzug habe die SPD ihren Widerstand gegen die Staatstrojaner aufgegeben.
Unabhängig von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit eines Deals, bei dem Bürgerrechte im Gegenzug zur Anfertigung einer Rassismus-Studie geopfert werden, wäre spätestens dann aller Anlass zum Misstrauen gegeben gewesen, als öffentlich wurde, dass der vermeintliche Kompromiss auf einen Vorschlag der Gewerkschaft der Polizei (GdP) zurückzuführen ist, die auch gleich für sich einen Platz im Beirat des Forschungsteams beanspruchte. Gehört doch die GdP, anders etwa als der Bund Deutscher Kriminalbeamter, zu den entschiedenen Gegnern einer solchen Studie.
Die Klarstellung von Seehofer ließ dann auch nicht lange auf sich warten: Es gehe mitnichten um eine Studie zum Thema des polizeilichen Rassismus, sondern ganz allgemein um eine Studie zum Alltagsrassismus in der Zivilgesellschaft und den Institutionen, ergänzt um eine Untersuchung des Polizeialltags und der besonderen polizeilichen Probleme.
D.h. also, dass es keine Studie zur Thematik ›Struktureller polizeilicher Rassismus‹ geben wird, dafür aber Verfassungsschutz, MAD und BND zukünftig Verdächtigen Trojaner auf deren Handys spielen dürfen, um verschlüsselte Nachrichten mitlesen zu können. Die SPD erklimmt neue Gipfel der Diplomatie.

ZWEITE RUNDE DER STUDIENERGEBNISSE: BETROFFENENBEFRAGUNG

In diese anhaltende Diskussion fiel nun im November 2020 die Veröffentlichung des zweiten Zwischenberichts des Forschungsprojekts der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum zum Umfang rechtswidriger Gewalt durch Polizeibeamt*innen. Entsprechend hoch war auch die öffentliche Wahrnehmung dieser Veröffentlichung.
Ging es im ersten Zwischenbericht insbesondere um das Ausmaß rechtswidriger Polizeigewalt, das Anzeigeverhaltens der Betroffenen und die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen in besonderem Maße von dieser Gewalt betroffen sind, wendeten sich die Forscher*innen um Prof. Singelnstein nun der Frage zu, welche besonderen rassistischen und diskriminierenden Erfahrungen People of Colour (PoC) und Menschen mit Migrationshintergrund Weiterlesen Diskriminierung und rassistische Gewalterfahrungen von PoC

»Die neoliberale Beschwichtigung ist zynisch«

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Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Inmitten der Pandemie macht Galeria Kaufhof viele Filialen dicht: Teilnehmerin einer Protestdemo der Gewerkschaft Verdi (Berlin, 14.7.2020)

Wie ist die Verteilungsgerechtigkeit der staatlichen Coronafinanzhilfen in Deutschland für 2020 einzuschätzen und welche Folgen könnte das für die wirtschaftliche Situation haben?

Die bittere Wahrheit ist, dass die Coronakrise auf die ungerechte Verteilung und die soziale Spaltung der Gesellschaft wie ein Beschleuniger gewirkt hat. Die zuvor schon kapitalistisch hart durchorganisierte Wirtschaft wurde zu Lasten der Armen verschärft. Die sozial Schwachen leiden unter den Folgen der Pandemie stärker, ihre Einkommen schmelzen. Die Vermögen nicht, weil sie kaum welche haben. Für Obdachlose auf der Straße und Menschen, die in miserablen Mietwohnungen eingepfercht sind und zuwenig Geld zum Leben haben, ist das Risiko groß, sich in der Pandemie nicht schützen zu können. Dazu kommt die Ungleichverteilung der Krisenkosten. Wie unzureichend das Kurzarbeitergeld ist, zeigt sich im Niedriglohnbereich. Die neoliberale Beschwichtigung ist zynisch: Wer jetzt unter dem Existenzminimum landet oder durch den Verlust prekärer Arbeit abstürzt, habe ja Zugang zum Hartz-IV-Sozialeinkommen.

Hat die Krisenlösung der Bundesregierung nur den Reichen genutzt?

Das muss man differenziert sehen. Mit Steuergeld dem Absturz der Wirtschaft und den Verlust von Arbeitsplätzen gegenzusteuern, ist erforderlich. Für Großunternehmen gab es Stützungsprogramme. Beispiel: Die Lufthansa erhielt neun Milliarden Euro aus dem ersten Konjunkturpaket von insgesamt 130 Milliarden Euro. Der Staat hat aber keine Zusagen zur Beschäftigungssicherung festgeschrieben. Der Jobabbau hat begonnen. Vor allem muss die Dividendenasschüttung ausgesetzt werden, wenn ein Unternehmen mit staatlichen Geldern gerettet wird. BMW nahm die Subventionen für Kurzarbeit dankend an, schüttete aber mitten in der Krise mehr als 1,6 Milliarden Euro Dividende für Großaktionäre aus, davon 800 Millionen an die Hauptaktionäre Susanne Klatten und Stefan Quandt. Die unverschuldete Not der sogenannten Soloselbständigen vor allem auch im Kulturbereich – darunter viele Frauen – wurde dagegen erst zu spät erkannt, dann zuwenig bekämpft. Zwar hat man aus der Krise gelernt, aber zu geringfügig nachgebessert. Weltweit agierende Konzerne profitieren. Opfer der ungerechten Antikrisenpolitik ist die wichtige lokale Ökonomie.

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Das erste Konjunkturpaket des Finanzministers Olaf Scholz regelte auch, »neue Rüstungsprojekte mit hohem deutschen Wertschöpfungs­anteil« in den Jahren 2020 und 2021 zu beginnen. Projektvolumen: 10 Milliarden Euro.

Das mit Schulden finanzierte Geld in Rüstungsausgaben umzulenken, ist zynisch. Die Linke und die Gewerkschaften fordern, Ausgaben des Konjunkturprogramms mit der Auflage zu verbinden, dass sie der nachhaltigen ökologischen Transformation dienen. Statt in der Coronakrise Rüstungsexporte zu stoppen, wurde die Waffenausfuhr fortgeführt, zum Beispiel U-Boote nach Ägypten.

Sammeln die Banken während der Pandemie verstärkt faule Kredite an, um sich bald wieder »retten« zu lassen?

Das Bankenwesen hat in seinem Portfolio eine wachsende Zahl von kritischen bis faulen Krediten. Die meisten werden vom Staat über die Kreditanstalt für Wiederaufbau verbürgt. Banken beziehen Provision und subventionierte Zinsen, im Fall von Unternehmenspleiten trägt der Staat die Last. Im Unterschied zur Finanzmarktkrise 2008/09 sind Rettungsprogramme kaum erforderlich. Die Risiken wurden vorab schon abgenommen.

Wer wird die Krise am Ende zahlen?

Wieder mal werden Ängste vor Inflation geschürt. Das ist Quatsch. Selbst Profitschürfer auf den Anlegermärkten investieren trotz negativer Renditen in sichere Staatsanleihen. Fragt sich: Wer übernimmt die Rechnung für die fälligen Kredite, wenn die Schuldenbremse kommt? Gegen eine Austeritätspolitik, die die Massen treffen würde, steht der Vorschlag einer einmaligen Vermögensabgabe zu Lasten des einen Prozents der Superreichen, die circa 38 Prozent des deutschen Gesamtvermögens ihr Eigen nennen. Ich befürworte kurzfristig eine einmalige Vermögensabgabe und langfristig eine jährliche Vermögenssteuer. Eine Sondersteuer für die profitgierigen Weltkonzerne im Technologiebereich wie Google, Amazon, etc. sollte hinzukommen.

Rudolf Hickel ist Wirtschaftswissenschaftler und Gründungsdirektor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen

Bonus aus Washington

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Die Aufständischen in Hongkong sind gesponsert von der US-Regierung (19.1.2020)

US-Präsident Donald Trump hat Nachbesserungen an dem mit großer Mehrheit vom Kongress beschlossenen Coronakonjunkturpaket gefordert. Das Maßnahmenbündel sei eine »Schande«, sagte Trump in einer am Dienstag abend (Ortszeit) über Twitter veröffentlichten Videobotschaft.

Er forderte die Abgeordneten und Senatoren zu Nachbesserungen auf und deutete an, dass er das Konjunkturpaket mit einem Umfang von rund 900 Milliarden US-Dollar sonst nicht unterschreiben würde. Die einmaligen und direkten Hilfszahlungen an die meisten Bürger sollten von 600 Dollar auf 2.000 Dollar erhöht werden. 

Cuba Si 2412-3012

Zusammen mit dem Konjunkturpaket wurde auch ein 1,4 Billionen Dollar umfassender Teil des Haushalts der Bundesregierung beschlossen. Die darin enthaltene finanzielle Unterstützung zur Unterstützung Aufständischer und Regime-Change-Programme fällt üppiger aus als die Hilfen für die unter der Coronapandemie leidende US-Bevölkerung. Allein für sogenannte Demokratieprogramme sieht die Gesetzgebung rund 2,4 Milliarden und für das »Programm zur Finanzierung des ausländischen Militärs« fast 6,2 Milliarden Dollar vor. Hinzu kommen sechs Milliarden US-Dollar für die Inlandsbeschaffung von Raketen der Luftwaffe und Kriegswaffen der Marine. Diesen »Coronabonus« gibt es zusätzlich zu dem Anfang Dezember verabschiedeten Verteidigungsgesetz, das bereits 740 Milliarden US-Dollar zur Aufrüstung vorsah.

Im Gesetzestext heißt es, 300 Millionen US-Dollar sollen für einen »Countering Chinese Influence Fund« bereitgestellt werden, um dem »bösartigen Einfluss der Regierung der Volksrepublik China und der Kommunistischen Partei Chinas sowie von Organisationen, die weltweit in ihrem Namen handeln, entgegenzuwirken«. Zudem werden Aktivisten in Hongkong mit drei Millionen US-Dollar ausgestattet, darunter fallen die Posten »Internetfreiheit«, »Anwaltskosten« und »Demokratieprogramme«. Der wohl bizarrste Teil widmet sich der »Nachfolge oder Reinkarnation des Dalai Lama«. (dpa/jW)

SPD enttäuscht Bellizisten

Tobias Pflüger: „SPD enttäuscht Bellizisten“

Nach vertagter Entscheidung von SPD-Fraktion zu Bewaffnung von Drohnen gibt deren verteidigungspolitischer Sprecher seinen Posten ab.

Von Tobias Pflüger

Bis zur letzten Minute war es nach außen hin spannend. Sagt die SPD-Fraktion jetzt Ja oder Nein zu bewaffneten Drohnen? Oder gibt es womöglich gar keine Abstimmung, und das Thema wird geschoben? Alles war denkbar, als die Fraktion am Dienstag per Videokonferenz zusammenkam. Klar war: Ein tiefer Riss geht beim Thema Kampfdrohnen durch Partei und Fraktion.

Am Abend kam dann der Paukenschlag: Fritz Felgentreu tritt zurück als verteidigungspolitischer Sprecher. Die SPD-Fraktion hat die Entscheidung über die Bewaffnung von Drohnen geschoben. Voraussichtlich wird es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu einer Entscheidung kommen. Notwendig sei eine umfangreiche Debatte. Felgentreu, der nicht wieder für den Bundestag kandidieren wird, hatte permanent dafür geworben, die Bundeswehr mit Kampfdrohnen auszustatten. Von ihm stammt auch die Aufforderung an die CDU-Ministerin im Verteidigungsministerium, Annegret Kramp-Karrenbauer, eine Vorlage zur Bewaffnung von Drohnen zu erarbeiten. Auch sonst ist der SPD-Abgeordnete aus Berlin-Neukölln immer stramm auf Aufrüstungskurs: Die enorme Erhöhung des Militärhaushaltes in den vergangenen Jahren etwa lobte Felgentreu im Verteidigungsausschuss als Erfolg der SPD.

Nun haben sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich und der Koparteichef Norbert Walter-Borjans durchgesetzt. Beide hatten sich zuvor kritisch über bewaffnete Drohnen geäußert. Aus der Friedensbewegung, aus der Zivilgesellschaft, aus der Wissenschaft und von der Partei Die Linke gab es ordentlich Druck auf die SPD, Kampfdrohnen eine Absage zu erteilen. Dafür herzlichen Dank.

Ein Nein zu bewaffneten Drohnen bringe ihn in Konflikt mit der Fraktion, erklärte Felgentreu am Dienstag nachmittag auf Twitter. Sein Rücktritt brachte ihm viel Lob im Bundeswehr-affinen Teil der Öffentlichkeit ein. Die SPD musste für ihr Nein dagegen viel mediale Kritik einstecken. Die Partei gebe ihre »Rolle als ernstzuehmende Gestaltungskraft im Feld der Verteidigungspolitik« auf, kommentierte etwa die Welt. Der »sozialdemokratische Eiertanz um die Drohne« sei »feige«, weil die SPD zur Begründung für das Nein anführte, dass die Debatte noch nicht ausreichend geführt sei. Diese Begründung trug der SPD tatsächlich viel Hohn und Spott ein.

Doch war es im wesentlichen eine gelenkte Debatte. Das Verteidigungsministerium achtete immer darauf, dass Befürworter das letzte Wort hatten, es wurde auf Bedenken und Einwände so gut wie nicht eingegangen. Immer wieder versicherte die Bundeswehr, Drohnen würden nur und ausschließlich zum Schutz von Soldatinnen und Soldaten, Lagern und Konvois eingesetzt. Vernetze Kriegführung, autonome Waffensysteme, Drohnenkriege – all das gab und gibt es angeblich nicht bei der Bundeswehr und soll es angeblich auch niemals geben. Und gezielte Tötungen, das Spezialmoment von Drohnen: Damit werde die Bundeswehr angeblich niemals etwas zu tun haben.

Dabei kann man nachlesen: Das nächste europäische Kampfflugzeug, das Future Combat Air System (FCAS), wird weit mehr sein als nur ein Kampfflugzeug. Es wird ein vernetztes System, das auch über bewaffnete Drohnenschwärme verfügt. Auch die »Eurodrohne«, für die 232 Millionen extra im jetzigen Haushalt 2021 stehen (siehe jW vom Mittwoch), ist von Anfang an bewaffnet geplant. Bewaffnete Drohnen sind Kampfdrohnen, es sind Angriffswaffen, Gegner sollen damit ausgeschaltet werden. Mit Kampfdrohnen droht ein neuer Rüstungswettlauf, ein unkontrolliertes, teures und ruinöses Wettrüsten. Drohneneinsätze wie gerade im Krieg um Berg-Karabach sind erst der Anfang.

Von daher ist es ein wichtiges Zeichen, wenn die SPD die Entscheidung zu Kampfdrohnen geschoben hat. Und das eröffnet den Weg zu echten Abrüstungsschritten, wie zum Beispiel in internationalen Verhandlungen zum Verbot tödlicher autonomer Waffensysteme. Was nun passieren muss, ist, die »Eurodrohne« aus den nächsten Bundeshaushalten wieder zu streichen. Die SPD hat sich bewegt, weil es Druck und gute Argumente gab. Eine Friedenspartei ist die SPD dadurch nicht geworden. Es braucht diesen Druck immer – von außen und von links.

Aus: junge welt, 17.12.2020

Warum Kinder in Europa von Ratten gebissen werden

falter.at

INTERVIEW: NINA HORACZEK 19-23 Minuten


Neunundvierzig Kinder und Jugendliche, die nicht mehr leben wollen. So viele minderjährige Patienten mit Selbstmordgedanken oder gar nach Selbstmordversuchen behandelten die Psychologinnen und Psychologen der medizinischen NGO Ärzte ohne Grenzen heuer alleine auf der griechischen Insel Lesbos.


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Die NGO ist sowohl auf Lesbos als auch auf der Insel Samos mit medizinischen und psychologischen Teams im Einsatz. Auch im Flüchtlingslager Vathy auf Samos hat mehr als jeder zweite Bewohner, der die Klinik von Ärzte ohne Grenzen aufsucht, Suizidgedanken. Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen Österreich war als Einsatzleiter und Experte für humanitäre Fragen im Taliban-Gebiet in Afghanistan, im ehemaligen Bürgerkriegsland Sierra Leone oder auch im Südsudan tätig, hat nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti Katastrophenhilfe geleistet und in der Demokratischen Republik Kongo Ebola bekämpft. „Aber die Dimension des Elends der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln macht auch mich fassungslos“, sagt er im Gespräch mit dem Falter. ***

Falter: Herr Bachmann, wie sieht der Alltag der Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern auf Lesbos und Samos aus?

Marcus Bachmann: Lassen Sie mich bei den Basics, beim Essen, beginnen. Die Menschen in diesen Lagern erhalten ausschließlich vorgekochtes Essen, kalt und in Plastik eingeschweißt. Selbst jetzt im Winter, wo die Temperaturen auf acht Grad sinken, gibt es kein warmes Essen. Die einzige Möglichkeit, sich selbst oder seinen Kindern eine warme Mahlzeit oder ein warmes Getränk zuzubereiten, ist das Kochen auf offenen Feuern. Die Kinder spielen auf dem Boden zwischen Zeltplane und Feuerstelle. Wenn zwischen diesen eng beieinander stehenden Zelten ein Topf umfällt, brennt es dort wie Zunder. Leider passiert dann oft ein Unglück.

Meinen Sie das große Feuer, das Anfang September im Lager Moria auf Lesbos ausbrach?

Bachmann: Ja. Bei diesem war die Ursache vermutlich eine andere, aber es war ja leider nicht das einzige. Es gab immer wieder große Feuer in den Lagern. Da sterben dann vor allem Frauen und Kinder.

Haben Sie Zahlen und Daten, wann es in den Lagern zuletzt gebrannt hat und wie viele Menschen in diesen Feuern gestorben sind?

Bachmann: Seit Jahren kommt es immer wieder zu schrecklichen Feuerunfällen. Schon im November 2016 verbrannten im Lager Moria auf Lesbos eine Großmutter und ihr Enkelkind bei einem Unfall beim Kochen mit offenem Feuer. Die Mutter des Kindes und sein zwei Jahre alter Bruder erlitten schwere Verbrennungen. Am 29. September 2019 starben bei einem Feuerunfall im Lager Moria eine afghanische Frau und ihr Kind. Am 16. März dieses Jahres verlor ein sechsjähriges Kind bei einem Brand im Lager Moria sein Leben und Dutzende Menschen ihre Unterkunft. Im Lager Vathy auf Samos ist es nicht besser. Dort hat es allein zwischen September und November 2020 drei Mal gebrannt. Am 26. September zerstörte ein Feuer drei Wohncontainer. Am 2. November verloren durch ein Buschfeuer 150 Menschen ihre Behausungen und am 11. November kam es durch offenes Feuer von Kochstellen zu einem Brand, der mehrere Unterkünfte zerstörte. Glücklicherweise gab es bei diesen Bränden keine schweren Verletzungen oder Todesfälle. Das sind nur einige Beispiele, keine vollständige Auflistung. Diese Brände verursachen unsägliches Leid, sie versetzen die Menschen in Angst und Panik. Besonders schlimm ist es, dass sie sehr starke Trigger für traumatisierte Flüchtende sind, die aus Kriegsgebieten kommen. Aber abseits von den Feuern sind speziell für Frauen, Mädchen und auch Kinder selbst so simple Dinge gefährlich, wie nachts auf die Toilette zu müssen.

Wieso?

Bachmann: In der Nacht ist es dort stockdunkel und extrem unsicher. Viele Frauen und auch Kinder fürchten sich und hören deshalb zu Mittag mit dem Trinken auf, um nachts nicht auf die Toilette gehen zu müssen. Vorige Woche wurde ein dreijähriges Mädchen nachts vergewaltigt auf Weiterlesen Warum Kinder in Europa von Ratten gebissen werden