
Bewohner des unter Quarantäne gestellten Göttinger Hochhauses klatschen während einer Kundgebung (23.6.2020)
In Göttingen sind Hunderte Bewohner eines Hochhauses unter Quarantäne gestellt worden. An den Coronamassentests dort sind Sie als Medizinstudentin beteiligt. Wie laufen die ab?
Wir Studierende der Universitätsmedizin Göttingen sind quasi ausgeliehen, um in dem Hochhaus unter der Regie von Ordnungs- und Gesundheitsamt zu helfen. Vor unserem Einsatz wurden wir eingewiesen, wie die Abstriche durchzuführen sind. Anfangs lief das allerdings noch ziemlich katastrophal. Die Tests wurden in einem Bus, einem sogenannten mobilen Coronatestzentrum, durchgeführt. Aus meiner Sicht war das aber eher ein Vireninkubator. In dem Bus gab es keine Möglichkeit, für Durchzug zu sorgen. Es ließen sich keine Fenster öffnen, damit Tröpfchen mit dem Virus nicht im Raum stehen. Und dennoch sollten gleichzeitig zwei Familien dort hinein und sich gegenüber voneinander sitzend abstreichen lassen. Das war die Arbeitssituation in der ersten Stunde, wurde später allerdings entzerrt.
Wer wohnt in diesem Haus, und wie ist die Lage dort?
In dem Komplex leben mehr als 600 Menschen unter für mich schockierenden Bedingungen. Allein die Anzahl der Menschen, die in einer Wohnung leben müssen, ist unfassbar. Ich bin mir sicher, dass viele sich solche Bedingungen, besonders in so einer Akademikerstadt wie Göttingen, gar nicht vorstellen können. Um sich zurückzuziehen oder Abstand zu halten, ist dort absolut kein Platz. Die Leute sind zusammengepfercht. Beim Testen ist mir etwas aufgefallen, was mich besonders schockiert hat: Viele Bewohner, besonders die Kinder, haben Infektionen im Mund- und Rachenbereich oder ihre Zähne sind in einem extrem schlechten Zustand. Viele Erwachsene haben zudem prekäre Jobverhältnisse und bangen ausgerechnet in dieser Lebenssituation um ihre finanziellen Einkünfte.
Es wurde kritisiert, dass alle Bewohner des Hochhauses am Donnerstag vergangener Woche unter Quarantäne gestellt wurden, anstatt diejenigen zu separieren, die positiv auf das Virus getestet worden waren. Welche Folgen hatte das?
Durch diese verantwortungslosen Maßnahmen hat man billigend in Kauf genommen, dass sich auch diejenigen mit dem Coronavirus infizieren, die bis dahin noch negativ waren. Es wäre besser gewesen, die positiv Getesteten von den anderen frühzeitig räumlich zu trennen. Ich bin mir sicher, dass es die Situation vor Ort entspannt und den Fokus auf die deutlich wichtigere gesundheitliche Versorgung der Menschen gelegt hätte.
Bei den aktuellen Masseninfektionen mit dem Coronavirus wurde in den Medien mit rassistischen Stereotypen gearbeitet. Stets steht dabei der Vorwurf im Raum, die Betroffenen hätten ihre Situation selbst verschuldet. Wie erleben Sie die Diskussion in Göttingen?
Göttingen ist eine von der Kultur geprägte Stadt mit vielen Studierenden aus den unterschiedlichsten Ländern. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Rassismus gehört auch hier noch zur Tagesordnung, was ich leider an Beispielen gegenüber meiner eigenen Person, als Kind einer persischen Familie, nur bestätigen kann. Einige Medien nutzen rassistische Stereotype und auf die Armut der Leute abzielende Klischees für den Verkauf ihrer Zeitungen. Auch die Berichterstattung in und über Göttingen war voll damit. Dass die Betroffenen selbst die Schuld tragen sollen, ist Bullshit. Menschen, die gezwungen sind, unter solchen Umständen zu leben, sind genausowenig an der Verbreitung des Virus »schuld« wie die Arbeiterinnen und Arbeiter, die bei Tönnies unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften müssen.
Wie haben Sie die Proteste gegen das Einsperren der Bewohner und das Vorgehen der Polizei gegen die Menschen dort erlebt?
Das große Polizeiaufgebot und die Vollausrüstung haben mich eingeschüchtert und mir Angst gemacht. All das signalisierte, dass ein deeskalierender Umgang nicht vorgesehen war. Besonders schockiert war ich davon, dass Polizisten Pfefferspray gegen Kinder eingesetzt haben. Die hatten in den ersten Reihen am Zaun gestanden. Es war offensichtlich, dass das Pfefferspray sie treffen würde. Es wäre für alle besser gewesen, in eine Interaktion miteinander zu treten und den Austausch mit Dolmetschern zu intensivieren, statt Gewalt gegen die Bewohner anzuwenden.
Setare Torkieh ist Medizinstudentin in Göttingen