»Das deutsche Volk vergisst zu schnell«

Den Soldaten der siebten US-Armee bietet sich ein Bild des Grauens, als sie am 29. April 1945 zur Mittagszeit das KZ Dachau erreichen. Sie stoßen auf Waggons eines Evakuierungszugs, der zwei Tage zuvor aus dem KZ Buchenwald eingetroffen ist – darin hunderte Leichen. Auch im Lager selbst türmen sich Tote. Das KZ ist mit über 32 000 Häftlingen völlig überfüllt – viele krank und unterernährt. Doch schon zwei Tage später begehen die Überlebenden eine 1. Mai-Feier auf dem Lagergelände und schwören, die Erinnerung an ihre toten Kameraden aufrechtzuerhalten. Doch es wird noch viele Jahrzehnte dauern, bis in Dachau den Verbrechen der NS-Zeit und ihrer Opfer würdig gedacht wird.

Erinnerung ist keine Sache der Vergangenheit, sondern findet in der Gegenwart statt und ist stets umkämpft. Auch heute, wenn etwa ein AfD-Politiker eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« fordert. An kaum einem Ort zeigt sich der Kampf um die Erinnerung so plastisch wie in Dachau. Jener kleinen Stadt vor den Toren der früheren »Hauptstadt der Bewegung«, an deren Rand die Nazis im März 1933 eines ihrer ersten Konzentrationslager errichteten. In der Nachkriegszeit hätten viele Politiker und Bürger die Überreste des Lagers am liebsten abgerissen, planiert, ausgelöscht – und damit auch die Erinnerung an die Verbrechen.

Die Autoren

Thies Marsen berichtet als Hörfunkjournalist seit Jahrzehnten über neue und alte Nazis, unter anderem war er Berichterstatter für die ARD im NSU-Prozess. Michael Backmund ist Journalist, Autor und Filmemacher. Backmund und Marsen berichten seit Mitte der 1990er Jahre über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Am heutigen Samstag ist um 13.05 auf Bayern 2 ein Radiofeature der Autoren zu hören. Die Sendung wird am Sonntag um 21.05 wiederholt und ist im Podcast des BR zu finden.

»Das gehört zu den betrüblichsten Kapiteln unserer Geschichte: der Umgang mit den Verfolgten«, sagt Friedbert Mühldorfer. Der heute 68-Jährige hat jahrzehntelang Besucher durch die KZ-Gedenkstätte geführt. Mühldorfer kam Anfang der 1970er Jahre zum ersten Mal nach Dachau, lernte Überlebende des KZ kennen und musste erleben, wie diese gesellschaftlich geächtet wurden: »Erinnerung war lange kein Thema. Die Überlebenden wurden ausgegrenzt, gleichzeitig kamen viele Nazis wieder frei.«

Lager für politische Gegner

Die Nationalsozialisten inhaftierten im KZ Dachau über 200 000 Menschen und ermordeten etwa 43 000 von ihnen. Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Geistliche, Sucht- und psychisch Kranke, Arbeitsverweigerer, später Nazigegner aus ganz Europa. Kurz vor Kriegsende wurden in den Dachauer Außenlagern rund 10 000 Jüdinnen und Juden durch Arbeit vernichtet. Doch am Anfang hatte das Lager eine andere Funktion: »Am Mittwoch wird in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager eröffnet. Hier werden die gesamten kommunistischen und – soweit notwendig – Reichsbanner- und marxistischen Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen.« Vor diesem Zeitungsartikel vom 22. März 1933 bleibt Friedbert Mühldorfer stehen, wenn er mit Schulklassen die Ausstellung der Gedenkstätte besucht. »Das stand in allen wesentlichen Zeitungen in Deutschland, es sollten alle lesen als Abschreckung. Der Zeitungsartikel beschreibt ganz offen die Funktion des Lagers: Ein Lager ausschließlich für die politischen Gegner, und zwar vor allem aus der Arbeiterbewegung.«

Doch das wird oft unterschlagen. Bis heute ist es eine Standardfloskel insbesondere von CSU-Politikern, sogenannte Linksextremisten mit Rechtsextremisten gleichzusetzen, selbst bei Gedenkfeiern in Dachau. Und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wird vom bayerischen Verfassungsschutz weiter als linksextremistisch eingestuft, weil sie einen »kommunistisch orientierten Antifaschismus« verfolge. Das hat dazu geführt, dass der VVN Ende 2019 die Gemeinnützigkeit entzogen worden ist.

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Antifaromantik und Freundinnenschaft

Paula Irmschlers Roman »Superbusen« ist wie selbstverständlich feministisch und antifaschistisch. Das ist gut

Von Bilke Schnibbe

Foto: privat

Paula Irmschlers ersten Roman zu rezensieren ist keine leichte Aufgabe. »Superbusen« handelt von Gisela und ihren Freundinnen, die in Chemnitz leben, sich dort mit der Gesamtscheiße (insbesondere Nazis, Polizei, Männern, Körpernormen und prekären Verhältnissen) herumärgern und eine Band gründen. Viel Stoff also, um pathetische Worte wie »DER Antifaroman« oder »DER Frauenfreundschaftsroman« aus dem Ärmel zu schütteln. Eine Liebeserklärung an Frauen, eine Liebeserklärung an Beton, eine Liebeserklärung an Dings. Kämpferisch, leidenschaftlich, tabulos! Ach so, und an Ostdeutschland natürlich.

Paula Irmschler, 1989 in Dresden geboren und aufgewachsen, ging 2010 zum Studieren nach Chemnitz. Ganz wie ihre Protagonistin Gisela. Mittlerweile ist Irmschler Redakteurin bei der Satirezeitschrift Titanic und freie Journalistin. Auf einer Lesung ihres Buches Anfang März erklärte sie, dass sie kein Interesse habe, darüber zu schreiben, dass es in Sachsen »gar nicht so schlimm« sei mit den Faschos. Das stimme so nicht. Diese Haltung Weiterlesen Antifaromantik und Freundinnenschaft

Es heißt Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft!

In den nächsten Monaten wollen wir mit euch und der ganzen Stadt diskutieren, was die Chancen einer Vergesellschaftung großer Wohnungsbestände sind und wie diese dafür ganz konkret aussehen muss. Den Auftakt dazu macht unsere Abendveranstaltung am 31.Januar. Unseren jetzigen Diskussionsstand haben wir dafür aufgeschrieben. Das Ergebnis gibt es als gedruckte Broschüre oder hier zum Download: 

Wer erst mal reinschnuppern will, findet hier eine kurze Zusammenfassung:

Was steht drin im Papier?

Das Papier stellt in den ersten zwei Kapiteln vor, was Vergesellschaftung für uns bedeutet: „die Überführung von privatem in öffentliches Eigentum, eine gemeinwohlorientierte Bewirtschaftung dieses Eigentums – und die demokratische Verwaltung des Ganzen.“ 

Gemeinwirtschaft denken wir als  „Wirtschaften, bei dem Gebrauchswerte im Vordergrund stehen“  also Weiterlesen Es heißt Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft!

Aufstand im Warschauer Ghetto Symbol des jüdischen Widerstands

Der Aufstand im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 war der größte bewaffnete Widerstandsakt von Juden in Europa gegen die Nationalsozialisten. Doch mit dieser Rebellion verband sich nicht die Hoffnung auf Sieg und Überleben. Der Aufstand jährt sich nun zum 75. Mal.

Von Johanna Herzing

SS-Truppen deportieren am 16.05.1943 Bewohner des Warschauer Ghettos. (imago / United Archives)
SS-Truppen deportieren am 16.05.1943 Bewohner des Warschauer Ghettos. (imago / United Archives)

Es wird kein stilles Gedenken am 19. April in Warschau. Sirenen werden die Stadt und ihre Bewohner für einen Moment zur Aufmerksamkeit zwingen. Manch einer wird an diesem Tag auch zurückdenken.

„Ich habe mir schon vorgestellt, dass ich kämpfe, aber so wie in diesen Rittermärchen, also dass ich auf einem Pferd reite, dass ich schieße und kämpfe – das waren so meine Phantasien.“

Krystyna Budnicka – früher, vor 75 Jahren, noch Hena Kuczer. Im April 1943 ist sie 11 Jahre alt. Sitzt in einem unterirdischen improvisierten Bunker, im sogenannten „Jüdischen Wohnbezirk“ von Warschau. Gemeinsam mit ihren Eltern, einigen Geschwistern und anderen jüdischen Familien, die sich vor den deutschen Besatzern verstecken. Hena weiß, dass oben gekämpft wird.

Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof. (dpa)Bewacht von einem deutschen Soldaten stehen Bewohner des Warschauer Ghettos mit erhobenen Armen in einem Innenhof. (dpa)

„Aber wir waren einfach sehr geschwächt, hauptsächlich haben wir geschlafen. Wahrscheinlich war das eine Überlebensstrategie des Körpers, einfach um nicht unnötig Energie zu verschwenden. Ich kann mich also nicht als Teilnehmerin bezeichnen, denn den Aufstand im Ghetto habe ich unter der Erde überlebt.“

Radikal ungleiches Kräfteverhältnis

Der Aufstand im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 – ein Ereignis von enormer Strahlkraft. Der größte bewaffnete jüdische Widerstandsakt während der Nazi-Besatzung Europas. Ein Symbol, war doch das Kräfteverhältnis der beiden Gegner so radikal ungleich.

Es sind vergleichsweise wenige Jüdinnen und Juden, die den Ausbruch des Aufstands überhaupt erleben. 1940 hatten die deutschen Besatzer das Ghetto errichtet, es durch eine Mauer abgeriegelt und dort zeitweise rund 450.000 Menschen zusammengepfercht. Als der Aufstand 1943 ausbricht, Weiterlesen Aufstand im Warschauer Ghetto Symbol des jüdischen Widerstands