Der Franzose Thomas Piketty gilt als Rockstar der Ökonomie. In seinem Weltbestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» zeigte er, warum der Kapitalismus die sozialen Ungleichheiten verschärft.
Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und verkaufte sich weltweit über 2,5 Millionen Mal, erntete aber auch scharfe Kritik. Sein neues Buch «Kapital und Ideologie» ist quasi eine Weltgeschichte der Ungleichheiten. Piketty legt dar, Ungleichheit sei weder ein Naturgesetz noch eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern ideologisch konstruiert und politisch gewollt.
Er stellt radikale Forderungen: Milliardäre und Spitzenverdiener sollen bis zu 90 Prozent ihres Vermögens und Einkommens abgeben und jeder Bürger soll mit 25 Jahren 120’000 Euro vom Staat bekommen, als Startkapital.
Warum diese drastischen Massnahmen? Was ist so schlimm an Ungleichheit? Ist sie der wahre Grund für die Krise der Demokratien? Das Gespräch von Yves Bossart mit dem streitbaren Ökonomen.
Um das Jahr 1320 brach die Pest in derselben zentralchinesischen Provinz Hubei aus, die heute mit ihrer Hauptstadt Wuhan als Ursprungsregion des Coronavirus gilt. Und bei allen historischen Unterschieden gibt es doch verblüffende Parallelen bei Verlauf und Konsequenzen beider Seuchen. Damals dauerte es noch 25 bis 30 Jahre, bis die Pest die chinesische Küste mit den Häfen für den Überseehandel und den Endstationen des zentralasiatischen Karawanenhandels erreicht hatte, der über die Routen der Seidenstraße China mit Europa verband. Von dort ging es dann jedoch ganz schnell: Innerhalb eines Jahres wütete die Seuche in Tana am Asowschen Meer, dem Endpunkt der zentralasiatischen Route, und in Aleppo, dem Endpunkt der Route durch Persien. Nicht länger dauerte es auf der maritimen Route durch das Südchinesische Meer, den Golf von Bengalen, das Arabische Meer und weiter durch das Rote Meer zum Nildelta oder den Persischen Golf und den Euphrat aufwärts zur syrischen Küste. Dort warteten bereits die italienischen Galeeren darauf, die kostbaren Waren der Karawanen an Bord zu nehmen und in Europa zu verteilen. 1348 hatte die Pest Italien mit voller Wucht erfasst.[1]
Die Konsequenzen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft waren katastrophal. Neben dem Massensterben der Bevölkerung entlang der Routen und Umschlagplätze des Fernhandels kam es zum Kollaps des ersten Weltwirtschaftssystems, in dem Oberitalien und die Niederlande nur die ferne westliche Peripherie bildeten. Dieses System hatte sich hundert Jahre zuvor unter dem schützenden Dach der Pax Mongolica gebildet, die den Steppengürtel von China bis in die ungarische Taiga überwölbte. Die Folgen dieses Kollapses waren gewaltig: eine langanhaltende wirtschaftliche Stagnation, die Erinnerung an den schwarzen Tod, der sich tief ins kollektive europäische Gedächtnis einnistete und durch Pestsäulen und Passionsspiele bis heute wachgehalten wird, und der Zusammenbruch des Mongolenreiches.
Die Globalisierung vor der Globalisierung – das erste Weltsystem vor Beginn der europäischen Welteroberung – zerbrach innerhalb kürzester Zeit und wurde von einer langen Fragmentierung der Welt abgelöst. Es dauerte bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, bis die Flottenexpeditionen der frühen Ming das System vom östlichen Ende der Welt her restaurierten, und sogar noch weitere 70 Jahre, bis die Portugiesen den Seeweg nach Indien gefunden und im Becken des Indiks den „Estado da India“ als neuen Ordnungsrahmen errichtetet hatten. Vasco da Gamas erste Reise ins indische Calicut (1498) und die erste Reise des Kolumbus (1492), der Indien auf der Westroute erreichen wollte und die „neue Welt“ entdeckte, markieren aus europäischer Sicht den Beginn der Globalisierung.[2]
Globalisierung besteht in der Intensivierung und Beschleunigung grenzüberschreitender Transaktionen (aus Handel, Finanzen, Menschen, Informationen und sogar Epidemien), die sich gleichzeitig räumlich ausdehnen. Kürzer gefasst, besteht dieser Vorgang also in der Kompression von Raum und Zeit. Corona ist in diesem Sinne die Intensivierung und Beschleunigung einer grenzüberschreitenden Seuche wie der Pest. Globalisierung ist aber, Weiterlesen Die finale Entzauberung der Globalisierung
Wirtschaftsweiser Achim Truger: Nach dem Ende des Lockdown empfiehlt er ein Konjunkturprogramm, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Herr Professor Truger, das Gutachten der Wirtschaftsweisen ist ein Gesamturteil aller Weisen, von denen Sie einer sind. Wie ist Ihre persönliche Meinung zur derzeitigen Reaktion der Bundesregierung auf die Corona-Krise im Bereich Wirtschaft und Finanzen?
Die Bundesregierung hat in sehr kurzer Zeit ein beeindruckendes Maßnahmenpaket zur Überbrückung der Krise und zur Linderung ihrer wirtschaftlichen Folgen auf die Beine gestellt. Darin sind wir uns auch im Sachverständigenrat völlig einig. Im Moment gibt es einen sehr starken Konsens in der Wissenschaft, aber auch in der Politik. Alle Parteien – mit Ausnahme der AfD – die Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, unterstützen den eingeschlagenen Kurs. Bei einigen Punkten, was mittelgroße Unternehmen, die Verringerung von Einkommensausfällen, die Stützung der Kommunalfinanzen und die europäische Krisenreaktion angeht, muss aus meiner Sicht noch nachgelegt werden.
Tiefe und Dauer der Rezession hängen von der Dauer des sozialen und ökonomischen Stillstandes ab. Sollte die Bundesregierung das in Ihre Überlegungen stärker miteinbeziehen?
Natürlich muss sie das einbeziehen, aber das darf nicht dazu führen, dass aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden. Es geht darum, mit Virologen und Epidemiologen den Kampf gegen die Ausbreitung des Virus zu verbessern und so schnell, wie es medizinisch vertretbar ist, wieder auf eine Normalisierung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens hinzuwirken. Sollten die Einschränkungen länger andauern müssen, müssten die Maßnahmenpakete entsprechend verlängert und ausgebaut werden.
Zurzeit gibt es einen Streit über so genannte Euro- oder Corona-Bonds, gemeinsame Anleihen der Euro-Staaten, um kapitalschwachen Ländern wie Italien und Spanien zu helfen. Was halten Sie davon?
Ich halte Corona-Bonds für notwendig. Alle Länder in Europa werden von der Epidemie ohne eigene Schuld getroffen, Italien und Spanien besonders stark. Alle Länder müssen deshalb genau wie Deutschland die notwendigen Gesundheitsausgaben und die Maßnahmen zur Überbrückung der Wirtschaftskrise tätigen können. Das geht nur durch zusätzliche Staatsschulden, und diese müssen garantiert sein, damit es nicht zu einer Neuauflage der Eurokrise kommt. Steigen die Schulden Italiens und Spanien aber sehr stark an, werden sie spätestens nach der Corona-Krise in Kürzungspolitik und damit ökonomische, soziale und politische Krisen getrieben, die letztlich in eine Staatsschuldenkrise und einen Zusammenbruch von Euro und EU münden würden. Daher muss Weiterlesen Wirtschaftsweiser Achim Truger hält Corona-Bonds für unverzichtbar
»Agieren im Staat«: Katja Kipping bei einer Pressekonferenz (Berlin, 10.2.2020)
Katja Kipping: Neue linke Mehrheiten. Eine Einladung. Argument, Hamburg 2020, 96 Seiten, 8 Euro
Die eben erschienene kleine Schrift der noch amtierenden Kovorsitzenden der Partei Die Linke, Katja Kipping, ist ein unmissverständliches Plädoyer für ein Regierungsbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei auf Bundesebene. Dass das Büchlein gerade jetzt herausgekommen ist, dürfte kein Zufall sein. Eigentlich soll Kipping ihr Amt im Sommer satzungsgemäß nach acht Jahren an der Parteispitze aufgeben. 2021 steht zudem die nächste Bundestagswahl an. Ihre Wortmeldung soll vor diesem Hintergrund zugleich Resümee und strategischer Projektentwurf sein.Dass es ihr um »eine Richtungsentscheidung« geht, verhehlt sie nicht. Zum einen bezieht sie diese Aussage auf die politisch-ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik. In der ihr eigenen Art, Alternativlosigkeit zu suggerieren, meint Kipping, es gäbe derzeit nur die Wahl zwischen drei Szenarien: einem »schwarz-blau-braunen« »Weg in einen noch autoritäreren Kapitalismus«, »einer neoliberale Variante mit grünem Anstrich«, also »Schwarz-Grün«, oder »neue linken Mehrheiten, die eine sozial-ökonomische Wende einleiten«. Für letzteren Weg stehe eine »fortschrittliche Regierung links der Union«, also die »rot-rot-grüne« Option.
Die zweite »Richtungsentscheidung«, die Kipping herbeiführen will, soll innerhalb ihrer Partei und der gesellschaftlichen Linken getroffen werden: Regierungsbeteiligung – ja oder nein? Ohne den Leser wenigstens einmal darüber aufzuklären, wer in ihrer Partei mit welchen Argumenten gegen eine Regierungsbeteiligung auftritt, Weiterlesen Konsequente Verdrängung
Wenn Polizei und Justiz es
Rechtsextremisten leicht
machen
Die Zahl der Ultrarechten mit der Erlaubnis,
Waffen zu besitzen, hat sich seit
2016 fast verdoppelt – und gerade jetzt
planen sie Anschläge. Auch bei der juristischen
Aufklärung von rassistischen
Angriffen zeigt der Staat Schwäche: Das
Bundesinnenministerium erklärt, von
2015 bis 2018 seien knapp 600 rechte
Straftaten gegen Asylunterkünfte polizeilich
aufgeklärt worden. Doch nur ein
Bruchteil der Täter wurde angeklagt
oder verurteilt. Sprechen wir besser vom
bewusst geschwächten Staat. D 2020.
Das Erste, 06.04.2020 22.45 Uhr
Wir beklagen zurzeit Grundrechtseingriffe ungeahnten Ausmaßes. Wir müssen aber noch etwas beklagen, nämlich einen ziemlich flächendeckenden Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards. Zwar betonen die Entscheider, die momentan mit Rechtsverordnungen Grundrechte suspendieren, immer wieder, wie schwer ihnen dies falle. Dem rechtlich wie ethisch gebotenen Umgang mit den Grundrechten wird die momentane Rechtfertigungsrhetorik jedoch nicht gerecht. Grundrechte können nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Der Eingriff unterliegt einem Rationalitätstest anhand von faktenorientierten Maßstäben und einer Verantwortbarkeitskontrolle orientiert an normativen Maßstäben.
Zunächst geht es um Faktenfragen: Es darf vor allem kein milderes Mittel geben. Können die gewählten Mittel das Ziel, dem der Eingriff dient, überhaupt fördern? Sind weniger invasive Mittel denkbar? Um diese Fragen zu beurteilen, muss man wissen, auf welche Bedrohung reagiert wird. Sodann dürfen die für dieses Ziel eingesetzten Mittel andere Rechtsgüter nicht unangemessen verkürzen. Jetzt geht es um eine normative Frage. Das rechtsstaatliche Rechtfertigungsprogramm von Grundrechtseingriffen operiert mit einigen Grundkategorien: Schutzgüter, Eingriffsintensität, mildere Mittel, Kausalität und Zurechnung. Die mit diesen Kategorien verbundenen Denkvorgänge finden momentan ganz weitgehend nicht statt. Wenn wir momentan einen „Ausnahmezustand“ erleben, dann ist es ein Ausnahmezustand im juristischen Denken.
Lebensschutz ist mittelbarer Effekt, aber nicht Ziel der Eingriffe
Zunächst besteht ein Problem, das grundrechtliche Schutzgut zu bestimmen, dem die Grundrechtseingriffe dienen. Es gehe um Leben oder Tod, liest und hört man immer wieder. Mich erinnert dieses Argumentationsniveau an die Zeiten von „lieber rot als tot“. Ginge es um Leben oder Tod, müssten zunächst alle Kraftfahrzeuge verboten werden. Nein, Weiterlesen Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie
Die griechische Regierung hat das Asylrecht für einen Monat ausgesetzt und Asylsuchende ausgewiesen. Laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag, das wir veröffentlichen, verstößt dieses Vorgehen gegen Menschenrechte.
Grenzüberwachung in Ungarn –
Berichte über Push-Backs gibt es nicht nur an der griechisch-türkischen, sondern auch an der ungarischen Grenze.
Dasharte Vorgehen der griechischen Regierungan der griechisch-türkischen Grenze im vergangenen Monat war völkerrechtswidrig. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag, das wir veröffentlichen.
Das Gutachten, das die innenpolitischen Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, Ulla Jelpke, in Auftrag gegeben hat, befasst sich mit dem Einsatz polizeilicher Gewalt durch griechische Behörden an der EU-Außengrenze.tagesschau.de hatte bereits über das Gutachten berichtet, es jedoch nicht veröffentlicht.
Das Corona-Virus kann unser Gesundheitssystem an seine Grenze bringen. Noch ist es bei uns nicht so weit wie in anderen Ländern. Dort müssen Ärzte entscheiden, wenn keine Betten oder Beatmungsgeräte mehr frei sind. Wer wird versorgt? Wer muss sterben? Für den Deutschem Ethikrat ist die Sache klar: Die Politik muss sich raus halten. Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, heißt es in einer Stellungnahme des Expertengremiums. Nur Ärztinnen und Ärzte entscheiden. Und zwar alleine nach medizinischen Kriterien. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland Verena Bentele hat dazu eine klare Meinung: