Weltschmerz 2.1
Woche für Woche kommentiert unser Kolumnist Sascha Lobo das Weltgeschehen aus digitaler Perspektive. Je länger er schreibt, desto größer wird sein Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten. Nun möchte er wissen: Kennen Sie das auch?

AFP
Anti-Brexit-Demonstrant beim Aufblasen von Ballons in London
Donnerstag, 12.09.2019 13:38 Uhr
Brexit, Klimakatastrophe, Trump ja sowieso – immerhin wissen wir jetzt, was es mit diesem alten chinesischen Fluch auf sich hat: „Mögest Du in interessanten Zeiten leben“. Ein altes deutsches Wort dagegen ist „Weltschmerz“, präzise definiert im Wörterbuch der Brüder Grimm, es handelt sich um eine tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt.
Hier meine deutsch-chinesische Kombination: Wir leben in Zeiten des höchst interessanten Weltschmerzes. Diesem Phänomen habe ich einen eigenen Namen gegeben, Realitätsschock, und ein Buch darüber geschrieben. Es handelt sich um eine fast zwingende Folge meiner seit fast neun Jahren erscheinenden Kolumne hier auf SPIEGEL ONLINE, in der ich über die Welt aus digitaler Perspektive schreibe.
Ich verfüge über den Luxus, vergleichsweise viel Zeit in einen einzelnen Text investieren zu können. Das ist zugleich ein Fluch. Denn je tiefer und genauer man in Weltzusammenhänge hineinschaut, desto größer die Chance, dass man Verstörendes, Beängstigendes, Erschütterndes entdeckt. Es gibt die Ansicht, dass die Angst abnimmt, wenn man sich intensiver mit einem Thema beschäftigt. Beim Thema Gegenwart scheint mir das eher andersherum zu sein. Ein Realitätsschock ist die plötzliche, oft schmerzhafte Erkenntnis, dass die Welt anders ist als gedacht oder erhofft.
Wenn Sie das wussten, warum haben Sie nichts getan oder gesagt?